Tilo Braune
Potsdamer Konferenz - Hauptreferate

Tilo Braune

Chancengleichheit als Kongressthema

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, ich begrüße alle unsere Gäste, Referentinnen und Referenten zu unserem Kongress "Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert". Die Gesellschaft Chancengleichheit richtet diesen Potsdamer Kongress aus. Ohne Unterstützung maßgeblicher Bundes- und Landesministerien sowie der Landeszentrale für Politische Bildung Brandenburg jedoch wäre dieser wichtige, und ich glaube auch thematisch zeitgemäße Kongress nicht zustande gekommen.

So begrüße ich verbunden mit dem Dank für die gewährte Hilfe die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Christine Bergmann und den Minister für Bildung, Jugend, Sport in Brandenburg, Steffen Reiche. Ich danke dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen wird morgen früh zu uns sprechen. Erlauben Sie mir nun einige Bemerkungen zur Gesellschaft "Chancengleichheit e. V.".

Die Gesellschaft Chancengleichheit wurde 1987 von maßgeblichen Persönlichkeiten aus den Bereichen der Bildungs-, Wissenschafts- und Frauenpolitik gegründet, zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft zählen unter anderem Inge Wettig-Danielmeier, damals ASF-Bundesvorsitzende, heute, wie Sie wissen, SPD-Schatzmeisterin und Prof. Manfred Dammeier, damals bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen.

Sie waren auch die ersten Sprecher der Gesellschaft, weitere Gründungsmitglieder lesen sich, wenn man so will, wie das "Who is who" führender Sozialdemokraten im Bildungs- und Wissenschaftsbereich. Ich erinnere zum Beispiel an Eckart Kuhlwein, den langjährigen Bundestagsabgeordneten und zeitweiligen parlamentarischen Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, und natürlich an maßgebliche Persönlichkeiten aus der Frauenpolitik.

"Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, das Menschenleben auf Erden." (Kant)

Ziel unserer Gesellschaft ist es, das Thema Chancengleichheit auf allen gesellschaftlichen Ebenen ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Schwerpunkte dabei sind die Herstellung von Chancengleichheit im Bildungswesen und die Gleichstellung von Frauen und Männern. Die Gesellschaft fördert dazu die Herausgabe von Informationsmaterialien und deren Verbreitung, vor allem durch die Zweiwochendienste "Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik" sowie "Frauen und Politik". Die Aktivitäten der Gesellschaft finanzieren wir aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen.

Was uns heute antreibt, ist der gleiche Impuls, der im Laufe der Geschichte oft, wenn man so will, als Notschrei erklang, der Schrei nach Gerechtigkeit. Wie bekannt wurde aus diesem Schrei mitunter Gewalt und Kampf. Im positiven Sinne, als optimistische Bilanz, hat er zur Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse beigetragen. Daran zu arbeiten sollte auch Ziel unseres Kongresses sein.

Wenn der politische Begriff der Chancengleichheit das Recht, bzw. den Anspruch auf gleiche Ausgangsbedingungen für die einzelnen Glieder der Gesellschaft bei der Entfaltung ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen meint, ist die Nähe zur Gerechtigkeit offenbar. Dieser Begriff hatte in der Antike schon den schweren Bedeutungsinhalt, dass sie neben Tapferkeit und Weisheit die mittlere der drei Tugenden, das heißt der grundlegenden Tauglichkeiten für das Gemeinwohl, war. Ihr war sogar, wie manche wissen werden, eine Göttin zugeordnet. Gerechtigkeit war Erziehungsziel.

Untertanen und Obertanen war es aufgegeben, sie einzuhalten. Zeitlich voraus dürfen wir auch noch an das Alte Testament erinnern, in dem die Gerechtigkeit Inbegriff gemeinschaftsgemäßen Verhaltens des Einzelnen gegenüber der von Gott gegebenen Rechtsnorm bedeutete. Bei Platon ist Gerechtigkeit die Ausgewogenheit der Kräfte der Gemeinschaft und der individuellen Seelenkräfte, des Bürgers im Speziellen, also eine politische Grundtugend. Überspringen wir ganze Zeiträume und verweisen wir auf Kant.

Er beschreibt Gerechtigkeit als Eigenschaft der Gesellschaft im bürgerlichen Zustand und schreibt an anderer Stelle das drohende Wort "Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, das Menschenleben auf Erden." Mit der Aufklärung stehen wir an einer entscheidenden ideengeschichtlichen Stelle der Entwicklung und Verwirklichung des Begriffs Chancengleichheit.

Er erscheint hier in enger Verbindung mit naturrechtlichen Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und der Entfaltung der politischen und gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, vor allem innerhalb des Bürgertums seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts. Privilegien des Adels und der Geistlichkeit wurden beseitigt, die feudalen Bedingungen der Gesellschaft ebenfalls.

Auf die tiefe soziale Deklassierung in der industriellen Revolution suchte die Arbeiterbewegung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gesellschaftliche Gleichstellung durchzusetzen, um so ihre Lebenschancen realisieren zu können. Wir kennen die wesentlichen Stationen, die Geschichte der SPD legt beredtes Zeugnis ab. Weiter kann hier die Entwicklung des liberalen Rechtsstaates, des Parlamentarismus, die Weiterentwicklung des Verfassungsstaates zum sozialen Rechtsstaat genannt werden.

Soziale Herkunft und hiermit häufig verbunden unterschiedliche finanzielle Ausstattung dürfen heute nicht länger über den Bildungsweg und damit die berufliche und soziale Zukunft entscheiden. Aus dem statistisch erfassten Bildungsgefälle und der unbestrittenen, im Schnitt unterschiedlichen Leistungsfähigkeit von Kindern verschiedener sozialer Herkunft wurde abgeleitet, dass sich unterprivilegierte und privilegierte Gruppen gegenüberstünden.

Es wurde daher konsequent gefordert, dass die benachteiligten Gruppen durch geeignete Fördermaßnahmen gleichgestellt werden müssen. In der SPD wurde Chancengleichheit in den 60er Jahren so zu einem politischen Programmbegriff in der Bildungspolitik. Es gilt nun, für die Gleichheit der Bildungschancen zu kämpfen und dort, wo man Verantwortung hat, in Taten umzusetzen.

Die CDU setzt dem ihren Kampfbegriff "Chancengerechtigkeit" entgegen. Sie wird damit in keiner Weise der politischen Norm der Chancengleichheit gerecht, die aus der Philosophie der bürgerlichen Aufklärung stammend mit verfassungsrechtlicher Absicherung in die sozialstaatlichen Grundrechtskataloge westlicher Demokratien gerückt und Bestandteil der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen geworden ist. Sicherlich bewusst soll der Begriff der Chancengerechtigkeit vernebeln.

Es soll wie eine spezielle Gerechtigkeit klingen, zeigt allerdings beim näheren Hinsehen, dass er Chancenungleichheit meint und die alten Situationen zu verdecken trachtet. Denn Chancen, das wissen wir, sind entweder gleich oder ungleich, und eben dadurch gerecht oder ungerecht.

Der Kampfbegriff "Chancengerechtigkeit" zeigt beim näheren Hinsehen, dass er Chancenungleichheit meint und die alten Situationen zu verdecken sucht.

Es ist die große Aufgabe der Gegenwart, Deutschland mit zukunftsweisenden Reformen zu modernisieren. Massen- und Jugendarbeitslosigkeit, Defizite bei den Bildungsangeboten, enorme Staatsverschuldung und sinkende Steuereinnahmen, steigende Kriminalität und globale Umweltprobleme, neue internationale Konflikte und andauernde Flüchtlingsströme sind nur einige Symptome. Sie fordern neue Antworten, mutige Strukturreform und solide politische Entscheidungen. Die heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme betreffen die Mitte unserer Gesellschaft.

Es sind nicht mehr nur vermeintliche Randgruppen, denen solidarische Unterstützung zuteil werden muss. Die Mehrheit unserer Bevölkerung sieht sich mit zentralen Zukunftsängsten konfrontiert. Die neoliberale Politik der alten Bundesregierung setzte auf Sozialabbau und Verringerung vielfältiger staatlicher Leistung. Diese kalte Politik der Umverteilung von unten nach oben verbesserte aber weder die wirtschaftliche Lage, noch konsolidierte sie die Finanzen von Bund, Ländern und Gemeinden. Vielmehr wurde der gesellschaftliche Auftrag, Chancengleichheit zu gewährleisten, immer kaltschnäuziger unterlaufen.

Unsere Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie es hinnehmen will, dass eine tragende Säule des sozialen Friedens in unserem Land zunehmend ins Wanken gerät. Angesichts neuer globaler Herausforderungen mit möglichen dramatischen gesellschaftspolitischen Konsequenzen hatte sich unsere Gesellschaft Chancengleichheit zum Ziel gesetzt, ihr jahrelanges ureigenes Betätigungsfeld stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und künftige Herausforderung und Antworten darauf zu beschreiben.

Was bedeutet heute Chancengleichheit? Bisher sahen wir unser Engagement darin, für einen gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu den ökonomischen, sozialen, kulturellen und bildungspolitischen Möglichkeiten unserer Gesellschaft einzutreten. Teilhabe, Kreativität und individuelle Entfaltung sollten nicht daran scheitern, aus welcher Gruppe unserer Gesellschaft der Einzelne kommt, oder ob Menschen aus den verschiedensten Gründen nicht die vorausgesetzten Konformitäten zum gesellschaftlichen Angebot mitbringen.

Wir streiten für Frauen, die durch fortdauernde Diskriminierung und ihre spezifische Doppelbelastung geringere Chancen in unserer Gesellschaft hatten und haben. Wir setzen uns für junge Menschen ein, die aus sozialen Gründen von den Bildungsmöglichkeiten unserer Republik ausgeschlossen werden.

Wir unterstützen eine Integrationspolitik gegenüber ausländischen Mitbürgern, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden und immer wieder als Sündenböcke herhalten müssen. Wir kämpfen für ein fairen Ausgleich zwischen Ost- und Westdeutschland und die nachhaltige Sicherung unserer sozialen Systeme. Der Begriff Chancengleichheit soll nicht eingeengt werden, sondern vielmehr über eine breite Diskussion einen erweiterten Ansatz finden, der die Komplexität unserer modernen Welt einbezieht und sich ihren Anforderungen konstruktiv stellt.

Es geht darum, fortbestehende Diskriminierung aufzudecken und zu beseitigen. Ich zitiere an dieser Stelle Prof. Faulstich: "Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass nicht mehr Herkunft oder Geschlecht, sondern Bildungsabschlüsse als Voraussetzung für den Zugang zu Berufsmöglichkeiten und damit für die Erlangung von Einkommen, Einfluss und sozialer Anerkennung gelten.

Chancengleichheit ist demnach in einer demokratischen Gesellschaft ein Maß für deren Legitimation und Gerechtigkeit. Das Postulat der Chancengleichheit wendet sich kritisch gegen Ungleichheiten der Entfaltungsmöglichkeiten aufgrund von Geschlecht, sozialer, kultureller und regionaler Herkunft. Gefordert wird die Abschaffung von Privilegien, die aus Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Gruppen resultieren."

Chancengleichheit ist in einer demokratischen Gesellschaft ein Maß für deren Legitimation und Gerechtigkeit.

Der Anteil von Frauen an den Studierenden liegt mittlerweile an den Universitäten über 50 %, der Anteil von Frauen an den Lehrenden und Forschenden jedoch ist nach wie vor bekanntermaßen eklatant gering und beträgt etwa bei den Professorinnen gerade 9 %. Kinder aus den sozial schwachen Schichten sind an den Hochschulen und Universitäten ebenso unterrepräsentiert wie ausländische, in Deutschland aufgewachsene Kinder.

Dies dürfte damit zusammenhängen, dass das Studiensystem in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eher auf Auslese statt auf Förderung und Unterstützung ausgerichtet ist. Hinzugekommen ist seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine bedeutende Ungleichheit in der Forschungslandschaft zwischen Ost- und Westdeutschland, was vor allem mit dem starken Abbau der Industrieforschung in den neuen Bundesländern verbunden ist.

Wir wollen mit unserem Kongress ein in den politischen Debatten der vergangenen Jahre unterrepräsentiertes, aber zwingend zeitgemäßes Thema neu in das öffentliche Bewusstsein rücken, um damit dem Thema "Gerechtigkeit" neuen Schwung zu verleihen. Mit der Potsdamer Erklärung, deren Elemente ich später als Diskussionsgrundlage für die morgigen Foren vorstellen werde, sollen Leitsätze für die weitere gesellschaftliche Diskussion aufgestellt werden.

Diese Leitsätze nehmen den bisherigen Wissensstand auf und bieten Impulse für deren praktische Umsetzung in der Zukunft. Wir brauchen natürlich einen akademischen Input, Ziel soll aber letztlich ein politischer Output sein, also die Umsetzung unserer Gedanken in die Lebenswirklichkeit. Dafür, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, wünsche ich uns in diesen nächsten zweieinhalb Tagen viel Erfolg. Ich danke für die Aufmerksamkeit.


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Einführung/Kongressleitung
- Holger Lührig

Plenum, 11. November 1999
- Tilo Braune
- Christine Bergmann
- Steffen Reiche
- Prof. Dr. Rolf Kreibich

Plenum, 12.November 1999
- Wolf-Michael Catenhusen
- Gabriele Behler