Potsdamer Konferenz - Forum II
Dr. Winfried Heidemann Chancengleichheit unter den Bedingungen der europäischen Einigung
Für andere Europäer ist unsere deutsche Diskussion, die sich auch in der Organisation der Foren auf diesem Kongress widerspiegelt, nicht einfach nachzuvollziehen. In einer europäischen Veranstaltung würde man natürlich davon ausgehen, dass Hochschulen auch Berufsausbildung machen. Die Trennung der Bereiche Berufsbildung und Hochschulbildung ist typisch deutsch. Ich werde vier Thesen über die Entwicklung der beruflichen Bildung in Europa vortragen und im Anschluss einige Aspekte vertiefen.
Erste
These: Das wird in die letzten Ecken und Winkel ausgeleuchtet, was sicherlich wichtig ist, da man eine Menge verbessern kann. Aber die entscheidenden Entwicklungen passieren in Europa im ökonomischen System. Ich möchte provozierend sagen, dass das, was in der Bildung läuft, sich nicht in den Bildungssystemen entscheidet, sondern in der Wirtschaft. Dort finden Entwicklungen statt, die völlig an dem vorbeigehen, was man mit schönen Bildungsprogrammen in den Griff zu kriegen oder zu regulieren versucht.
Zweite
These: Das ist der entscheidende Punkt, der die Entwicklungen in den Fragen der Bildung in den Vordergrund rücken wird, sei es im formalen Bildungswesen oder mehr noch im informellen Bildungswesen. Denn es könnte ja sein, dass das informelle Bildungswesen, also das Lernen im Alltag, das Lernen in der Gesellschaft, das Lernen in den Prozessen von Dienstleistungen und Produktion, viel weiter reicht oder viel tiefer greift als das, was in den traditionellen Bildungsinstitutionen abläuft.
Es scheint sich jetzt ein neues Bildungsmedium über Internet herauszukristallisieren, das man nicht regulieren kann. Man kann die Menschen allerdings mit der Fähigkeit ausstatten, dieses Lernmedium zu nutzen. Dafür sehe ich bisher in unseren Bildungsinstitutionen wenig Ansatzpunkte. An dieser Stelle liegen ganz entscheidende Versäumnisse. Wenn man die Menschen nicht zur Nutzung des Internet befähigt, dann wird es zu neuen und verschärften Chancenungleichheiten kommen, die das weit in den Schatten stellen, was wir bisher an Ungleichheit haben. Dann wird die Chancenungleichheit sowohl zwischen sozialen Schichten wie auch zwischen Männern und Frauen kolossal zunehmen.
Dritte
These: 1993 hat der Rat der EU eine Empfehlung abgegeben über den Zugang zur Weiterbildung. 1997 haben wir die Auswirkungen dieser Empfehlung analysiert. Ich habe die Bewertung damals für den Europäischen Gewerkschaftsbund gemacht. Unser Ergebnis ist, dass der Zugang zur Weiterbildung insgesamt in Europa, da unterscheiden sich die Länder nur graduell, eher zufällig und nicht systematisch gesichert ist. Natürlich gibt es auch Unterschiede: In Dänemark ist der Zugang ganz deutlich besser als in Großbritannien oder als in Deutschland.
Vierte
These:
Zum Schluss will ich diese Thesen einbetten in das, was wir in allen europäischen Ländern auf dem Hintergrund von Globalisierung und Informatisierung in der Wissens- und Informationsgesellschaft sehen. Es entstehen neue Arbeitsformen: z.B. die Telearbeit; es verändert sich aber auch die Arbeit innerhalb der Unternehmen. In fraktalen Unternehmen sind die einzelnen Teilglieder sehr ähnlich, haben aber sehr spezifische Aufgaben. Die in ihnen arbeitenden Menschen müssen sich zwischen diesen einzelnen Teilen bewegen und jeweils die Kompetenzen dafür erwerben. Die Arbeitsorganisation verändert sich. In virtuellen Unternehmen ist man gar nicht mehr an einem Arbeitsort zusammen, sondern arbeitet jeweils projektweise mit Leuten zusammen über Netz, Internet oder Intranet. Man trifft sich ggf. ab und zu persönlich, es besteht nur eine virtuelle Organisationseinheit, die nach Beendigung des Projektes beendet oder neu zusammengesetzt wird. Die Juristen nennen dies eine "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses", in soziologischer Perspektive wird das Phänomen in letzter Zeit beschrieben als die Herausbildung eines neuen Typus von Arbeit, nämlich des Arbeitskraftunternehmers.
Es gibt Anzeichen dafür, dass der traditionelle Arbeitnehmer (langjährige und gar lebenslange Beschäftigung im selben Betrieb, im selben Beruf, den man einmal gelernt hat, mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag als Mann, der zu Hause von der Frau versorgt wird), der ja eigentlich eine Entwicklung der letzten 50 Jahre ist, abgelöst wird durch neue Beschäftigungsformen. Es gibt sogar Leute, die sagen, der Arbeitnehmer sei nur eine Fußnote der Geschichte. Er werde verschwinden, weil die Industriegesellschaft verschwindet, die jetzt gerade mal 150 Jahre alt ist. Da gab es kurzzeitig ein Proletariat, das dann durch gewerkschaftliche und staatliche Regulierung abgesichert wurde, und der Arbeitnehmer wurde zur zentralen Figur. Nun entsteht in arbeitssoziologischer Perspektive parallel zu diesem Typus der des Arbeitskraftunternehmers, der bezogen auf seine eigene Arbeitskraft eher unternehmerisch handelt und denkt, seine eigene Arbeitskraft auch selber ausbildet und fortbildet und sich immer wieder in neue Zusammenhänge aktiv selber einklinken muss. Gerade das kann man in Informations- und Multimediaunternehmen sehr gut beobachten. Das hat natürlich erhebliche Folgen für die berufliche Aus- und Weiterbildung.
In dieser Entwicklung gibt es Chancen und Risiken. Die Chancen sind vor allem die höheren Freiheitsgrade, die Risiken liegen in der sozialen Ausgrenzung. Gewerkschaften und all diejenigen, die sich als politisch links verstehen, neigen in der Regel dazu, zunächst die Risiken zu betrachten, vor ihnen zu warnen und Barrieren aufzubauen, damit die Risiken nicht ganz so groß werden. Das ist sicher notwendig. Aber die Frage ist, ob man nicht bei den Chancen ansetzen und versuchen sollte, diese Chancen zu gestalten. Ich sehe - jetzt spitze ich das zu - in Europa zwei Ansätze hierzu: Der eine Ansatz will die Stärkung der individuellen Eigenverantwortung, der andere setzt auf die Absicherung und Rekonstitution kollektiver Statuszuweisung. Man kann die Konzepte auch mit Namen verknüpfen:
Die erste ist die Philosophie des Schröder-Blair-Papiers, die zweite findet sich im Jospin-Papier. Auch die Empfehlung des Sachverständigenrats Bildung der Hans-Böckler-Stiftung stellt die Stärkung der individuellen Eigenverantwortung in den Vordergrund, das heißt eigenverantwortliche Nutzung der Chancen und die Ausstattung der Individuen mit den Fähigkeiten, sich in den Entwicklungen der globalisierten Welt und der Informatisierung zu bewegen. Das Jospin-Papier artikuliert eher den Wunsch nach kollektiver Statussicherung. Ein Satz in ihm heißt: "Es handelt sich um einen Staat, der seine unaufgebbare Verantwortung wahrnimmt, indem er jedem seinen Platz in der Gesellschaft garantiert." Dagegen könnte man polemisch einwenden, dass in Frankreich die Jugendarbeitslosigkeit über 20 % liegt. In Großbritannien mit Beteuerung der individuellen Eigenverantwortung ist sie erheblich niedriger. Ich habe das bewusst zugespitzt.
Ich persönlich glaube, dass für den Weg der kollektiven Statuszuweisung, angesichts der Globalisierung und Informatisierung der Welt auf Dauer keine Chance besteht. Zugleich muss man allerdings auch diejenigen, die geringere Chancen haben, stärken, damit möglichst wenige aus dem System der Berufsbildung herausfallen.
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Einführung/Thesenpapier/ Bericht - Veronika Pahl - Maria-Eleonora Karsten/ Christoph Ehmann
Round-Table 1:
Round-Table 2: |