Potsdamer Konferenz - Forum II
Ingo Schlüter Chancengleichheit unter den Bedingungen fehlender Arbeitsplätze
Fachwissen erschwert die Entscheidungsfindung - sagt die Finanzministerin in Schwerin, wenn wir sie mit Details plagen. Meine Aufgabe ist es heute, die spezifische Situation in Ostdeutschland, die schon kurz angesprochen wurde, für den Bereich der Berufsbildung zu illustrieren. Außerdem will ich auf die geschlechtermäßige Ausprägung von Chancengleichheit im Berufsbildungssystem eingehen und dazu eine Untersuchung in Mecklenburg-Vorpommern über die Jahre 1996 - 1997 heranziehen. Anschließend werde ich ganz grundsätzlich etwas zu der Frage sagen, wie man mit dem Berufsbildungssystem in Deutschland umgehen könnte.
Als Ausgangspunkt möchte ich unsere Zahlen nehmen. Sie belegen eigentlich nicht eine generelle Benachteiligung von Frauen im Berufsbildungssystem, auch wenn sie jetzt in den dualen Ausbildungsgängen nur mit ungefähr 40 % vertreten sind. Ganz anders sieht es im Bereich der Erwerbsbeteiligung aus: Wenn Sie sich die Arbeitslosenquoten ansehen, gibt es eine deutliche Spreizung zwischen Männern und Frauen, sowohl bei den Quoten als auch bei dem Anteil an den Arbeitslosen, obwohl sich auch das ostdeutsche Erwerbsverhalten allmählich mindestens etwa in dem Zeitraum der nächsten zehn Jahre dem westdeutschen tendenziell eher annähern wird. Das folgenreichste Problem für die Berufsbildung ist bei uns die allgemeine Arbeitslosenquote, die in den letzten zwei Jahren immer so um 20 % betrug.
Neben jahreszeitlichen Schwankungen besteht die deutliche Spreizung in der Jugendarbeitslosigkeit zwischen den beiden Altersgruppen der 20- bis 25-Jährigen und den jüngeren Jugendlichen. Eine Vielzahl von Programmen in Ostdeutschland und im Bereich der Benachteiligtenausbildung, wird in erheblichen Größenordnungen wirksam, so dass die deutliche Problematik an der zweiten Schwelle, ab dem Alter von 20 Jahren, auftritt.
Der zweite Punkt, der das ostdeutsche Problem ausmacht, ist die demographische Entwicklung. Wie haben einfach aufgrund der sozialpolitischen Maßnahmen der DDR in den 70er und 80er Jahren heute viele Schulabgänger und Bewerber, mehr als zum Beispiel in Schleswig-Holstein oder Hamburg, dort gibt es ganz deutliche Unterschiede, was die demographischen Formen betrifft. Generell unterscheiden sich die Eckdaten der Ausbildungsmärkte in den Ostländern qualitativ und quantitativ kaum. Was passiert eigentlich mit einem Bewerberjahrgang? Weniger als die Hälfte der Bewerber gehen tatsächlich in die duale Ausbildung. Wir haben einen ganz starken Teil, der in die außerbetriebliche Ausbildung geht. Hier sind sowohl die Bund-Länder-Sonderprogramme, die sich aus den außerbetrieblichen Auffangprogrammen entwickelt haben, als auch die schulischen Maßnahmen bedeutsam, auch der sonstige Verbleib ist sehr stark, und dann natürlich eine Zahl von nicht versorgten Jugendlichen.
Die betrieblichen Ausbildungsplätze werden in Ostdeutschland im Wesentlichen auch durch staatliche Alimentierung herbeigeführt. Nach einem Spitzenwert, der mit gewissen landespolitischen Paukenschlägen erklärbar ist, fallen wir inzwischen immer weiter zurück. Bei diesen betrieblichen Ausbildungsplätzen wird übrigens die Behindertenausbildung immer mit gezählt. Insofern gehen erheblich weniger als 44 % in eine echte betriebliche Ausbildung. Wir haben entsprechende Verläufe bei den Unversorgten. Früher wurden benachteiligte Jugendliche einfach in die außerbetrieblichen Ausbildungsgänge gesteckt, bis dahin gab es kaum Unversorgte. Das Umschalten auf die betriebsnahe Ausbildung brachte, zusammen mit der demographischen Entwicklung, echte messbare Unversorgtenzahlen. Die haben wir auch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
An den Zahlen, wie viele Leute im Frühjahr diesen Jahres ins 100.000-Stellen-Sofortprogramm der Bundesregierung nach Artikel 4 gegangen sind, da habe selbst ich nur mit wenigen Hunderten in Mecklenburg gerechnet, zeigt sich das Ausmaß der Unterversorgung: Das Ende vom Lied waren 1.400 Jugendliche allein bei uns. Also mitten im nachfolgenden Vermittlungsjahr gehen noch so viele Leute in eine solche Ausbildung, obwohl die Wahlmöglichkeiten auch nur begrenzt waren. Die Lehrstellenproblematik Ost ist viel größer. Das sehen Sie unter anderem auch an der Zahl der Altnachfrage, die in den letzten Jahren bei fast 40 % liegt. Das ist natürlich ein Ausdruck dafür, dass Ausbildungsstellen fehlen.
Den großen Anteil der schulischen Maßnahmen wiederum darf man nicht prinzipiell schlechtreden: Es gibt viele Ausbildungsgänge, die einfach schulisch sind. Insofern gehören sie dazu. Auf vergleichsweise hohem Niveau ist die Benachteiligtenausbildung, die aber auch mit Stigmatisierung verbunden ist. Und der sonstige Verbleib, eine Ziffer, die in den letzten Jahren immer größer wurde, ist auch nicht immer kriminell. Einiges erklärt sich aus der normalen Jugendlichenbiographie, aber von der Tendenz ist natürlich ein kranker Ausbildungsstellenmarkt keine Einladung, praktisch andere Wege zu gehen.
Ich hatte vorhin schon auf die staatliche Förderung hingewiesen und nenne nun die Zahlen für Mecklenburg-Vorpommern, und hier ist, wie gesagt, kein Unterschied zu den anderen Ostländern:
Ungefähr zwei Drittel der echten betrieblichen Ausbildungsplätze werden direkt mit staatlichen Prämienprogramm alimentiert. Das sind zwei- bis dreistellige Millionenbeträge pro Bundesland. Wenn man das zusammenaddiert, kommt man für den Zeitraum von 1992 bis 1996 allein für Mecklenburg-Vorpommern für die betriebliche Ausbildungsförderung, für die außerbetriebliche Ausbildung aus den Auffangprogrammen, die überbetriebliche Lehrunterweisung, die alimentiert wird, und die vollzeitschulischen, die praktisch über den normalen Bedarf notwendig gewesen sind, auf 1,2 Mrd. DM.
Sie müssen sich vorstellen: Mecklenburg ist klitzeklein mit seinen 1,7 Millionen Einwohnern. Und da haben wir damals schon 1,2 Milliarden für die Alimentierung des Berufsbildungssystems aufgebracht! Das waren nicht nur Landesmittel, sondern auch Bundesmittel und ESF-Mittel. Wir reden hier nicht über Peanuts, wir reden auch nicht über kleine und mittlere Summen, sondern wir reden über gigantische Summen. Wenn Sie wissen, dass ein Landeshaushalt in Mecklenburg-Vorpommern jetzt 13-14 Milliarden ausmacht, dann werden in wenigen Jahren allein in diesem Bereich, wo es eigentlich darum gehen sollte, zu untertunneln und zu überbrücken, Milliardenbeträge aufgewandt.
Nun zu meiner zweiten Frage: Sind Frauen tatsächlich benachteiligt in der Berufsbildung? Im Berufswahlverfahren sind ostdeutsche Mädchen stärker als westdeutsche Mädchen bereit, sich auf mehrere Berufe zu orientieren. Sie sind durchaus sehr mobil und flexibel. Obwohl sie (noch) relativ flexibel sind, münden sie aber letztendlich klassisch ein. Interessant ist eine Geschichte für mich: Mädchen finden sich in den Auffangprogrammen überdurchschnittlich, zum Beispiel in der Gemeinschaftsinitiative Ost. 70 % der Teilnehmer sind dort Mädchen. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass es eine ausdrückliche Aufgabe dieser Programme ist, auch für Mädchen etwas zu machen. Bei den Bewerbern sind Mädchen zunächst erst mal mit ca. 50 % repräsentiert, allerdings mit einer rückläufigen Tendenz. 1995 waren es noch 52 %, inzwischen sind es knapp 49 % der Bewerbungen um duale Ausbildung. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die deutlich höhere Schulbildung der Mädchen. Bei den Schulabgängern insgesamt stellen Mädchen fast über 50 %, aber die Mädchen dominieren deutlich bei höherwertigen Schulabschlüssen und bringen einfach die besseren schulischen Voraussetzungen mit. In der Prämienphilosophie der Ostländer gibt es deutliche Unterschiede: Die Betriebe erhalten für Mädchen die höheren Prämien. Am Anfang war das eine Spalte von 100 %. Die Jungs erhielten 3.000 DM, die Mädchen 6.000 DM. Dazu kam die Förderung für Mädchen in mädchenuntypischen Berufen. Die Entscheidung eines Betriebes, auszubilden oder nicht, kann man letztendlich mit einer Prämie, die einen Unterschied von 2.000 oder 5.000 Mark ausmacht, nicht erzwingen.
Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern sehr gute Erfahrungen gemacht mit dem Instrumentarium der außerschulischen dualen Berufs-Frühorientierung. Berufs-Frühorientierung heißt bei uns: Wir verlassen uns weniger auf die Schule, sondern die Betriebe und die außerbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen haben aus der Erfahrung der polytechnischen Oberschule der DDR heraus ein neues Konzept entwickelt: Über einen Zeitraum von einem Dreivierteljahr, fast einem Schuljahr, bieten die Träger der Berufsbildung - das sind Kammereinrichtungen, da sind aber auch Betriebe direkt daran beteiligt - einen Zyklus in Form von Arbeitsgemeinschaften an. Einmal pro Woche machen Jugendliche jeweils einen ganzen Nachmittag sämtliche Erfahrungen in der Arbeitswelt. Sie erhalten nicht nur Informationen darüber, welche Berufe es alles gibt, sondern sie gehen in verschiedene Werkstätten, in Computerkabinette, in kaufmännische Übungsfirmen der Träger, und sie spielen einfach das Berufsbild tatsächlich durch. Das tun wir auch nicht nur für wenige Leute, sondern es sind mehrere tausend Teilnehmer pro Jahr. Den jungen Menschen, Jungs und Mädchen, wird praktische Berufswahlkompetenz durch eigene Erfahrungen in diesem Bereich vermittelt. Die Erfahrungen sind sehr gut, wie sich an den ersten Evaluationsergebnissen zeigt.
Jetzt zu der Frage, wie man letztendlich mit dem ganzen Komplex der beruflichen Bildung umgehen sollte. Ich glaube, wenn es um Chancengleichheit geht und wenn es sehr speziell darum geht, Chancengleichheit für Mädchen zu verbessern, dann führt das nur über einen einzigen Weg, nämlich das Berufsausbildungsangebot insgesamt zu verbessern. Nur, ich will hier am Ende einfach die Frage stellen: Ob wir uns mit immer wieder heißen Schwüren und Bekenntnissen zur dualen Ausbildung wirklich einen Gefallen tun? Wir haben manchmal schon so taktische, scherzhafte Debatten darüber geführt: Man könnte die Berufsausbildung vielleicht auch verschulen, aber ich würde vielleicht in eine andere Richtung gehen. Das ist mein Vorschlag einer trialen Ausbildungsinitiative. Dieses Gedankenmodell haben wir in einem kleinen Kreis der ostdeutschen DGB-Landesbezirke entwickelt. Wir haben es eingetextet beim Bündnis für Arbeit auf Bundesebene. Der Kerngedanke dieser trialen Ausbildungsinitiative, "Trabi plus" genannt, weil es aus dem Osten kommt, soll zu einem Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsverhältnissen führen. Das möchte ich noch kurz skizzieren:
Ausgangspunkt ist, dass ich ohne eine Änderung der Finanzierungsgrundlagen der deutschen Berufsbildung einen Zuwachs an betrieblichen Plätzen nicht mehr erreichen kann. Also ist die Überlegung, die vorhandenen betrieblichen Plätze besser zu nutzen, indem ich die vorhandene Infrastruktur, die wir im Osten haben, außerbetrieblich, vollzeitschulisch, im Wesentlichen für das erste Ausbildungsjahr nutze und den Durchfluss in den betrieblichen Ausbildungsplätzen auf den zweiten und dritten Ausbildungsjahrgang erhöhe, allerdings mit betrieblichen Ausbildungsverhältnissen. Vom ersten Tag an gibt es einen betrieblichen Ausbildungsvertrag, es gibt eine kurze Eingliederungs-Prägungsphase am Beginn der Ausbildung, die ein bis drei Monate dauert. Dann folgt das erste Ausbildungsjahr im wesentlichen in der außer- oder überbetrieblichen oder vollzeitschulischen Ausbildung. Wir erwarten uns davon einen Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsverhältnissen in der Größenordnung von 10 bis 15 %. Dieses ist ein additives, alternatives Modell, ein Vorschlag, der jetzt nicht zwangsmäßig in Ostdeutschland oder ganz Deutschland eingeführt werden sollte. Mein Vorschlag wäre, es zur dritten Säule der GI-Ost zu machen. Denn durch die hohe Zahl an außerbetrieblicher betriebsnaher Ausbildung werden echte betriebliche Ausbildungsplätze wegsubstituiert wegen der Notwendigkeiten, hier Praktika anzubieten. Wenn der Vorschlag dann später möglicherweise auch die gesamtdeutsche Debatte positiv beeinflusst, habe ich nichts dagegen.
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Einführung/Thesenpapier/ Bericht - Veronika Pahl - Maria-Eleonora Karsten/ Christoph Ehmann
Round-Table 1:
Round-Table 2: |