Potsdamer Konferenz - Forum II

Maria-Eleonora Karsten/ Christoph Ehmann

Thesen: Chancengleichheit und berufliche Bildung

1.
Definition von Chancengleichheit

Chancengleichheit in der Berufsausbildung heißt, über die Möglichkeit zu verfügen, die der Eignung und Leistung und der späteren Berufsperspektive angemessene Berufsausbildung wählen zu können. Dabei kann die Bereitstellung von Ausbildungsangeboten nicht generell mit dem Argument begrenzt werden, es würden auch keine weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Denn derartige Prognosen können auf Individuen bezogen kaum zutreffend abgegeben werden. Andrerseits kann aber auch nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit eine Ausbildungsmöglichkeit für jeden Beruf vorgehalten werden.

2.
Befunde zur Realisierung von Chancengleichheit

Der Chancengleichheit in der Berufsausbildung stehen bereits Hindernisse bei der Berufsinformation und Berufsberatung entgegen. Die zunehmende Trennung des Familienlebens und der schulischen Erfahrung von dem Bereich der Produktion und Dienstleistung schränkt den möglichen Informationshorizont junger Menschen erheblich ein. Diese Einschränkung trifft die Jugendlichen beim Übergang in eine duale Ausbildung gegenüber denen, die eine schulische oder hochschulische Berufsausbildung wählen können, deutlich stärker, weil ihnen sehr viel weniger Zeit zur Suche und Gewinnung von Erfahrungen bleibt.

Nach rund 30 Jahren praktizierter Chancengleichheit in der Berufsbildung im Kontext von Gender-Mainstreaming ist die Bilanz der Verwirklichung aus der Sicht von Frauen ernüchternd.

Die Bindung des Angebots an dualen/praxisbezogenen Ausbildungsstellen an das Vorhandensein von funktionierenden Betrieben hat sich zwar in den letzten Jahren durch die Bereitstellung außerbetrieblicher Bildungsstätten deutlich verringert. Dennoch sind die Chancen junger Menschen in strukturschwachen Regionen deutlich reduziert. Wenn dann noch kulturelle Restriktionen hinzu treten, die jungen Frauen die Suche einer Ausbildungsstelle fern des elterlichen Haushalts erschweren, so verstärkt sich diese Benachteiligung. Ohnehin ist nach rund 30 Jahren praktizierter Chancengleichheit in der Berufsausbildung im Kontext von Gender-Mainstreaming die Bilanz der Verwirklichung aus der Sicht von Frauen ernüchternd:

Das Gesamtausbildungssystem von den dualen bis zu den schulischen Berufsausbildungen wird weiterhin sowohl organisatorisch als auch curricular weitgehend getrennt diskutiert und politisch verhandelt. Diese bis in die administrativen und politischen Zuständigkeiten hineinreichenden Trennungen haben bis heute eine Gesamtschau verhindert und zu nachweislichen Ungleichheiten geführt.

So werden z.B. die 128 schulischen Berufsausbildungen zum ersten in der Regel bei den politischen Überlegungen unberücksichtigt gelassen, zum zweiten aber vor allem von jungen Frauen besucht. Trotz aller Modernisierungen der letzten Jahre sind denn auch folgende Themen unterschiedlich geregelt oder gar weiterhin ungeklärt:
Die Wege in die Berufsausbildungen führen bei Mädchen in dominante 10 Berufsausbildungen, während Jungen rund 250 Ausbildungen nutzen.

2.1.

Die Lernorganisation bewegt sich zwischen vollzeitschulischen Formen und einer modifizierten Dualität, die Lernorte reichen von der Teilzeitberufsschule über die Berufsfachschule und der Fachschule bis hin zu betrieblicher Praxis.

2.2.

Die Anbieterstrukturen reichen von privaten Lehreinrichtungen über öffentliche Schulen bis hin zu Formen, die in der Verhandlungshoheit der Sozialpartner liegen.

2.3.

Die Finanzierung reicht von der Zahlung von Ausbildungsvergütungen an die Auszubildenden bis hin zur Erhebung von erheblichen Schulgeldern von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

Dabei haben sich Differenzierungen in der Weise herausgebildet, dass von den ungünstigeren Varianten eher jungen Frauen betroffen sind. In den Zeiten des harten Kampfes um bezahlte Ausbildungsstellen ziehen Mädchen und junge Frauen den kürzeren. In steigendem Umfang werden sie auf weiterführende allgemeinbildende Schulen verwiesen.

Die Erhöhung ihres Anteils an allen Abiturienten vor allem in Ostdeutschland ist jedoch nicht mit einer entsprechenden Steigerung ihrer beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten verbunden, wie dies bislang selbstverständlich erschien. So bewirken die manifesten und latenten Chancenungleichheiten im Berufsbildungssystem ungleiche Startchancen im Beschäftigungssystem, insofern auch die Organisation der Arbeitsmärkte weiterhin segmentiert ist: Der fast ausschließlich von Frauen bediente Arbeitsmarkt für personenbezogenen Dienstleistungen ist deutlich gegenüber den anderen Teilmärkten abgewertet.

3.
Gesellschaftliche Entwicklungen bis 2009

Die Berufsausbildungssituation wird in Ostdeutschland gekennzeichnet sein durch den erheblichen Rückgang an Ausbildungsplatzbewerberinnen und -bewerbern nach 2005. Dieser Rückgang wird umso dramatischer ausfallen, je mehr junge Menschen mit Hochschulzugangsberechtigungen den heute dort nur in etwa 50 Prozent der Fälle genutzten direkten Weg zur Hochschule suchen. In Nord-, West- und Süddeutschland wird dieser Rückgang weniger heftig und mit zeitlicher Verzögerung eintreten. Diese Rückgang kann dazu führen, dass sich die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt entspannt.

Sie wird jedoch angesichts der Veränderung in der Berufswelt nicht zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte führen, da die zukunftsträchtigen Berufe voraussichtlich einen wachsenden "Staatsanteil" in Form von mehr Berufsschulunterricht und Unterweisung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten benötigen als noch üblichen stark besetzten Berufe. Die europäische Einigung wird die Auflösung detaillierter Vorgaben für die Berufsausbildung befördern.

Sie wird gleichzeitig einem europaweiten System der Zertifizierung von Kenntnissen und Fähigkeiten ("Europapass") zum Durchbruch verhelfen, das nicht weniger, sondern anders regelt, dabei aber dem und der einzelnen eine stärkere Verantwortung für die Gestaltung seiner bzw. ihrer Gesamtqualifikation abfordert. Gerade dies wird die Notwendigkeit eines differenzierten Bildungsberatungssystems zusätzlich begründen.

Die europäische Einigung wird die Auflösung detaillierter Vorgaben für die Berufsausbildung fördern. Sie wird gleichzeitig einem europaweiten System der Zertifizierung von Kenntnissen und Fähigkeiten zum Durchbruch verhelfen.

4.
Eine neue Philosophie

Das Erfordernis von mehr Selbstverantwortung für den eigenen (Berufs-) Bildungsweg wird sich nur realisieren lassen, wenn frühzeitig alle Kinder - Mädchen und Jungen - die Chance erhalten, die dazu erforderlichen Kompetenzen zu erwerben und zu erproben. Die neue Philosophie für die Berufsausbildung "Mehr Selbstverantwortung und mehr Gestaltungsspielraum" wird nur dann sozial gerecht bleiben, wenn die jungen Menschen schon früh daran gewöhnt wurden, diese Freiräume wahrzunehmen und strukturelle Barrieren abgebaut werden. In der Berufswelt der Zukunft wird das "kulturelle Kapital" der Einzelnen zunehmende Bedeutung erlangen.

Dieses "Kapital" wird nicht nur in Schulen und Ausbildungseinrichtungen "angesammelt", sondern schon in der vorschulischen Bildung grundgelegt. Was im vorschulischen Bereich an Förderung nicht geschehen ist, wird immer schwieriger nachholbar. Da diese Einsicht aber erst langsam und nicht in alle Schichten gelangt, wird die Berufsausbildung ihre heutige "methodische Einheitlichkeit" aufgeben und sich bewusst den unterschiedlichen Gruppen mit sehr unterschiedlichen Methoden zuwenden müssen, um Chancengleichheit im Ergebnis annähernd erreichen zu können.

5.
Wege und Instrumente zu mehr Chancengleichheit

Selbstverantwortung und Gestaltungsspielraum für die Einzelnen verlangt von der Gesellschaft, mehr Information und Aufklärung bereitzustellen und den Zugang für junge Frauen und Männer dazu zu sichern. Die Chancen der größeren Wahlfreiheiten bedeuten für die Einzelnen aber auch, für die Ergebnisse der eigenen Entscheidungen die Verantwortung zu übernehmen. Die Entwicklung der Qualifikationsanforderungen wird die schulische Berufsausbildung stärker als bisher zu einem gleichberechtigten Element in der Berufsausbildung machen.

Dies bedeutet eine Neuverteilung der Gewichte und Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Modelle dafür könnten Berufsakademien und einige Fachhochschulausbildungen sein oder die neuen Formen von Kooperationen von Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten.

Angesichts der hohen Bedeutung, die dem Übergang von der Schule über die Berufsausbildung in die Erwerbsarbeit für die Sicherung der Chancengleichheit ebenso wie für den Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens zukommt, bedarf es des moderierenden und "wissenden" Staates.

6.

Das hohe Maß an Selbststeuerung und Eigenverantwortung in der Berufsbildung erfordert Rahmenbedingungen, die in öffentlicher Verantwortung gesetzt werden:
  • Die Gewährleistung von Information und Beratung,
  • die Qualitätssicherung und
  • die Vorsorge für ein ausreichendes Bildungsangebot.
Damit wird die Rolle des Staates für die Detailregelung reduziert. Sie wird aber im Hinblick auf die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems vergrößert.

Angesicht der hohen Bedeutung, die dem Übergang von der Schule über die Berufsausbildung in die Erwerbsarbeit für die Sicherung der Chancengleichheit ebenso wie für den Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens zukommt, bedarf es des moderierenden und "wissenden" Staates, der in der Lage ist, bei drohenden gesellschaftlichen Verwerfungen einzugreifen.

Vorrangig ist der Aufbau eines pluralen Beratungssystems, das den Interessenten und Lernenden vor Ort zugänglich ist und ihnen jene Unterstützung gewähren kann, die für die Wahrnehmung der Eigenverantwortung erforderlich ist. Alle Berufsbildungseinrichtungen sollen die Qualität ihrer Angebote gewährleisten. Deshalb sollen die Einrichtungen auf der Grundlage genereller Standards akkreditiert und regelmäßig überprüft werden. Die Offenlegung des Angebots und die regelmäßige Überprüfung der Qualität sind die Grundlage, um für die Lernenden Transparenz über die Bildungsanbieter und ihre Angebote herstellen und ggf. mit öffentlicher Unterstützung Vorsorge für ein ausreichendes Bildungsangebot treffen zu können.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Veronika Pahl
- Maria-Eleonora Karsten/
  Christoph Ehmann

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen beruflicher Bildung:

- Prof. Dr. Maria Eleonora Karsten
- Dr. Winfried Heidemann

Round-Table 2:
Chancengleichheit als
Auftrag für die duale
und schulische Berufsaus-
bildung

- Hermann Rademacker
- Ingo Schlüter