Potsdamer Konferenz - Forum V

Dr. Eva-Maria Bosch

Einige Aspekte zur Fragestellung:
Was kann Weiterbildung zur Behebung der Chancenungleichheit tun?

Das deutsche Sozialstaatskonzept bestimmt nicht nur die Rolle des Staates, sondern auch das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, von Gerechtigkeit, Solidarität und Unabhängigkeit. Damit erfährt die Definition von Wohlfahrts-/Sozialstaat als dem "institutionellen Ausdruck der Übernahme einer legalen und damit formalen und ausdrücklichen Verantwortung einer Gesellschaft für das Wohlergehen ihrer Bürger in grundlegenden Belangen" (Girvetz 1968, 512) eine spezifische Gewichtung.

Zu den grundlegenden Belangen für das Wohlergehen der Bürger und Bürger gehört das Recht auf Bildung, als einer entscheidenden Voraussetzung für personale Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Partizipation. Staatliche Sozialpolitik ist u.a. der Zielsetzung verpflichtet, durch eine gleichmäßigere Verteilung der Chancen für den Erwerb von Bildung, Einkommen und Vermögen die Verwirklichung materialer Freiheit gleichmäßiger zu ermöglichen und mehr soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Seit Mitte der 60er-Jahre wird entsprechend die Entwicklung der Bildungspolitik im Sinne der Herstellung materialer Chancengleichheit auch für Angehörige wirtschaftlich und sozial schwacher Gruppen forciert. Ziel ist es, die Startchancen der Bürgerinnen und Bürger durch Bildungspolitik anzugleichen und das Recht auf Selbstentfaltung des Individuums und gesellschaftlicher Teilhabe zu gewährleisten. Bildung und Weiterbildung sind Voraussetzungen für die Teilhabe an der Gesellschaft. Dies zumal in einer Gesellschaft, in der sich die für die aktive Teilhabe relevanten Wissensbestände kontinuierlich und in raschem Tempo weiterentwickeln.

Weiterbildung in öffentlicher Verantwortung hat von Beginn an - neben emanzipatorischen - auch kompensatorische Aufgaben:

  • Bildungschancen auszugleichen,
  • Informations- und Lernbarrieren abzubauen und
  • Mängel der schulischen Bildung und Erstausbildung zu korrigieren.
Weiterbildung soll u.a. frühere Bildungsentscheidungen ausgleichen und Bildungswege korrigieren. Der Begriff des ,Zweiten Bildungswegs' bringt dies zum Ausdruck.

Die 3. Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Weiterbildung formuliert die Bedeutung der Weiterbildung wie folgt:

"Weiterbildung soll allen Menschen, unabhängig von ihrem Ge-schlecht und Alter, ihrer Bildung, sozialen oder beruflichen Stellung, politischen oder welt-anschaulichen Orientierung und Nationalität die Chance bieten, sich die für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Mitgestaltung der Gesellschaft erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Die Wahrnehmung dieser Chance durch eine möglichst große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern liegt im Interesse der demokratischen Gesellschaft, nützt den Qualifizierungsinteressen der Beschäftigten und der Arbeitgeber, dient der Verbesserung von Produkten und Dienstleistungen und erhöht die Lebensqualität der einzelnen."

In Brandenburg hat das Recht auf Weiterbildung Verfassungsrang (Art. 33); Paragraf 2 des Brandenburgischen Weiterbildungsgesetzes bestimmt, dass: "Weiterbildung ... l. durch bedarfsgerechte Angebote zur Chancengleichheit beitragen, die Vertiefung und Ergänzung vorhandener oder den Erwerb neuer Kenntnisse, Fähigkeiten und Qualifikationen ermöglichen, zur Orientierung und Lebenshilfe dienen, zu selbständigem, eigenverantwortlichem und kritischem Handeln im persönlichen, sozialen, politischen, kulturellen und beruflichen Leben befähigen..." soll. Die Weiterbildung auf der Grundlage des Brandenburgischen Weiterbildungsgesetzes leistet durch das Prinzip der Grundversorgung, einer Pflichtaufgabe der Landkreise, auch einen Beitrag zur regionalen Chancengleichheit, für das Flächenland Brandenburg eine besondere Anforderung.

Trotz der dargelegten Zielsetzungen, wie sie sich in nahezu allen Ländern in ähnlicher Form finden, hat Weiterbildung die soziale Ungleichheit im Bildungswesen nicht wesentlich verringern können. Auch im Weiterbildungsbereich kommt es nicht zu dem angestrebten Chancenausgleich. Die von der Erstausbildung her vorhandenen Ungleichheiten der Chancen und Diskriminierungen werden dagegen teilweise verschärft.

Das Weiterbildungsverhalten weist relativ große Disparitäten auf. Die soziodemographischen Faktoren der Weiterbildungsteilnahme verdeutlichen dies. Bei der Teilnahme an Weiterbildung gibt es erhebliche gruppenspezifische Unterschiede. So liegt nach dem Wissensdelphi beispielsweise in der beruflichen Weiterbildung die Teilnahmequote der Akademiker etwa fünfmal so hoch wie die der Ungelernten. Unter den Weiterbildungsteilnehmern sind vor allem folgende Gruppen unterrepräsentiert:

  • Personen mit niedriger schulischer bzw. beruflicher Vorbildung;
  • über 50-Jährige;
  • nicht erwerbs-tätige Personen und Arbeiter (vgl. Wissensdelphi).
Zielgruppenorientierte Weiterbildung zur sozialen und regionalen Gegensteuerung ist daher ein besonderes Ziel der öffentlich verantworteten Weiterbildung; sie wird praktiziert und in verstärktem Maße gefordert. Für die Weiterbildungspraxis wird es allerdings immer schwieriger, Angebote ausschließlich für sozial Benachteiligte so zu konzipieren, dass deren besondere Situation dadurch getroffen und mitverbessert würde, da soziale Bedürftigkeit nicht zwangsläufig identisch ist mit Bildungsbedürftigkeit.

Das Konzept des lebenslangen Lernens muss sich mit dem sozialstaatlichen Auftrag der Chancengleichheit neu auseinander setzen.

Hinzuweisen ist auch auf die diskriminierenden und stigmatisierenden Effekte von Zielgruppenarbeit, die als Zugangsbarriere wirken. -Es wird Aufgabe der Weiterbildung sein, zukünftig die Wirklichkeitsbeschreibungen dieser Gruppen in der Angebotsplanung und Durchführung stärker zu berücksichtigen und vorhandene Differenzen der jeweiligen Lebens- und Lernkulturen stärker zu respektieren (vgl. z.B. Seniorenbildung, Frauenbildung, Migrantenbildung). Es wird in der pädagogischen Arbeit darauf ankommen, bei der Arbeit mit ,Benachteiligten' die Balance zu finden zwischen Toleranz und Akzeptanz der jeweiligen Lebenswelt und dem Verständnis für die Binnensicht ihrer jeweiligen Lebenslage und der Aufgabe der gesellschaftlichen Integration durch Kompetenzentwicklung.

  • Weiterbildung agiert in einem Spannungsfeld:
  • Ungleichheit durch Kompetenzerweiterung aufheben zu wollen (Zielsetzung),
  • Ungleichheit fortzuschreiben (faktische Weiterbildungsbeteiligung) und
  • Ungleichheit im Angebot zu berücksichtigen und zu respektieren (zielgruppen - und lebenslageorientierte Angebote).
Dieser Spannungsbogen ist auch im Konzept des lebenslangen Lernens vorhanden; er verschärft sich in der Wissensgesellschaft .

"Mit dem veränderten Zugang zu Wissen und Information verbindet sich ... das Risiko eines ,knowledge gap' in der Gesellschaft. Die Kluft zwischen ,wissensnahen Gruppen, die über immer mehr Wissen verfügen, und ,wissensfernen Gruppen', die immer mehr den Anschluss verlieren, vergrößert sich. Dabei handelt es sich um eine sich selbst verstärkende Entwicklung: Die Möglichkeiten zum Wissenserwerb erhöhen sich wiederum mit erworbenem Wissen.

Dies resultiert zum einen daraus, dass die Lernkompetenz durch die Aneignung von Wissen weiter verstärkt wird, was fortan weiteren Wissenserwerb erleichtert. Zum anderen entsteht dieser Effekt aber auch aus der jeweiligen ,Nähe' zu informationstechnischen Medien." ( vgl. Wissensdelphi) Die ungleichen Chancen zum Zugang von Wissen werden als Risikophänomen mit der Wissensgesellschaft verknüpft.

Das Konzept des lebenslangen Lernens, dass sich u.a. durch die Betonung der Eigenverantwortung, durch offene und selbstgesteuerte Lernformen und vernetzte Angebote ausweist und das ,Wissen' zu einem wesentlichen gesellschaftlichen Integrationsfaktor erhebt, muss sich mit dem sozialstaatlichen Auftrag der Chancengleichheit neu auseinander setzen. Die traditionelle Unterscheidung einer jugendlichen Lernphase und einer Arbeitsphase im Erwachsenenalter, die auf dem einmal Gelernten beruht, erweist sich als anachronistisch. Lerninhalte werden vielmehr auf das gesamte Lebens neu verteilt.

Weiterbildung hat im Konzept des lebenslangen Lernens nicht mehr vorrangig nachsorgende, sondern zukunfts-gestaltende Funktionen.

Damit verändern sich auch Anforderungen an schulische Bildung und Erstausbildung. Die Förderung von Eigeninitiative - statt Instruktion - die Schaffung eines Lernklimas, das die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen fördert, die Anschlussfähigkeit der Systeme und Lerninhalte sind nur einige Stichworte, die den aktuellen Handlungsbedarf beschreiben. Das Konzept des lebenslangen Lernens fordert den systemischen Blick auf alle Bildungsbereiche und deren stärkere Verzahnung. Die Bedeutung der Weiterbildung für die Teilhabe an der Gesellschaft ist bekanntermaßen im Konzept des lebenslangen Lernens dargelegt.

Weiterbildungspolitik und Weiterbildungspraxis stehen vor der Aufgabe, lebenslanges Lernen durch die Entwicklung geeigneter Strukturen und Angebote zu unterstützen, Bildungsbedürftige zu erkennen und zielgenau zu fördern und keine neue systematische Lücke für jene zu schaffen, die weder bildungsmäßig besonders privilegiert noch bildungsmäßig unterprivilegiert sind. Die Anforderungen, die sich aus dem Paradigma des lebenslangen Lernens ableiten, erfordern den Auf- und Ausbau von Unterstützungssystemen, die Lernstrukturen und Lernwege transparent und überschaubar machen.

Gefordert ist vor allem ein offenes Klima, in dem Lernen honoriert und gefördert wird, nicht allein zur Privatsache deklariert wird und in dem unterschiedliche Lernmilieus toleriert werden. Weiterbildung hat im Konzept des lebenslangen Lernens nicht mehr vorrangig nachsorgende, sondern zukunftsgestaltende Funktionen. Daher ist sie auch in hohem Maße auf Kooperation und auf die Vernetzung mit anderen politischen Handlungsfeldern in regionalen Strukturen angewiesen.

Auch unter dem Anspruch des lebenslangen Lernens wird Weiterbildung in Zukunft wie kein anderer Bildungsbereich im Spannungsfeld von Ungleichheiten agieren. Mit diesem Grunddilemma muss Weiterbildung offensiv umgehen.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Prof. Dr. Peter Faulstich

Round-Table 1:
Weiterbildung, soziale Barrieren und Gender-Mainstreaming
- Prof. Dr. Christiane Schiersmann

Round-Table 2:
Solidarität und Kulturelle Vielfalt als Leitbild für die Institutionen der Erwachsenenbildung
- Prof. Dr. Ekkehard Nuissl
- Theo Länge
- Dr. Karin Derichs-Kunstmann

Round-Table 3:
Soziale Gerechtigkeit und Weiterbildungspolitik
- Dr. Eva-Maria Bosch