Potsdamer Konferenz - Forum III

Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Einführung und Thesen: Chancengleichheit und Schule

Seit den Bildungsreformen der 60er Jahre haben sich grundlegende Veränderungen im Bildungssystem ergeben, die durchaus als eine Erfolgsbilanz gelesen werden können:

Für den schulischen Bereich sind hier insbesondere hervorzuheben:

  • der enorme Anstieg der höheren Qualifikationen,
  • die curricularen Reformen wie z.B. die stärkere Berücksichtigung arbeitsweltorientierter Inhalte (Arbeitslehre, Berufsorientierung, Betriebspraktika usw.),
  • die Aufwertung moderner Fremdsprachen, usw.
Man kann sagen: Immer mehr junge Menschen verlassen die Schulen mit immer besserer Vorbereitung auf den Eintritt ins Berufsleben. Insofern könnte man zufrieden sein mit der schulischen Bildungsreform. Richtet man den Fokus auf die mit der Bildungsreform angestrebte Chancengleichheit, so muss man die Erfolgsbilanz allerdings stark einschränken: Der gesellschaftliche Wandel seit den 80er Jahren hat die ungelösten Probleme der Chancenungleichheit im Bildungswesen verschärft. Dies gilt für alle vier uns besonders interessierenden Aspekte:
  • Soziale Ungleichheit,
  • Ost-West-Verhältnis,
  • Geschlechterfragen und
  • Zuwanderungsprobleme.
Die Bildungsexpansion seit den 60er Jahren hat die soziale Ungleichheit des Bildungssystems nicht wesentlich verändern können. Zwar haben alle sozialen Klassen von der Expansion profitiert; die Ungleichheit zwischen "ganz unten" und "ganz oben" ist jedoch eher größer geworden, während dazwischen vieles in Bewegung gekommen ist. Die Gesamtschule als die Schule, die angetreten war, Chancengleichheit zu realisieren, ist zu einer vierten Schulform geworden, statt die Dreigliedrigkeit abzulösen. In Folge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat die westdeutsche Schulstruktur auch die ostdeutsche bestimmt, anstatt sinnvolle Ansätze z.B. von Berufsorientierung aufzugreifen.

Die Multikulturalität der Gesellschaft wird im schulischen Bereich überwiegend noch als Problem, statt als Chance gesehen. Kinder von Zuwanderern (Arbeitsmigranten, Asylbewerber, Russlanddeutsche) haben kulturell-ethnisch wie sozial besondere Nachteile.

Die Geschlechterfrage hat im schulischen Bereich die deutlichste Veränderung erfahren: Junge Frauen sind im allgemeinbildenden Schulsystem mittlerweile nicht mehr benachteiligt, vielmehr sind sie zu höheren Anteilen an höherer Bildung beteiligt und gehören zu größeren Anteilen zu den Erfolgreicheren (weniger Zurückstellungen, weniger Sitzen bleiben, weniger Sonderschulbesuch, bessere Abschlüsse). Nach wie vor allerdings sind sie im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich unterrepräsentiert, was sich auch auf die Berufswahl auswirkt.

Im pädagogischen Umgang und in den vermittelten Inhalten finden sich noch weitgehend geschlechterhierarchische Strukturen. Berufsorientierung, die Lebensplanungen für beide Geschlechter so bearbeitet, dass Arbeit nicht auf Erwerbsarbeit beschränkt bleibt, Familienarbeit auch als Aufgabenbereich für junge Männer und Karriere auch als Perspektive für junge Frauen ins Blickfeld gerückt wird, fehlt vor allem im gymnasialen Bereich. Noch immer werden die pädagogischen Probleme von Jungen im schulischen Bereich zu wenig gezielt bearbeitet, und noch immer wird das Selbstbewusstsein von Mädchen zu wenig gestärkt.

Bei den Lehrkräften finden wir sowohl in der Hierarchie der Schulformen als auch bei den Schulfächern und insbesondere im Verhältnis von Lehrenden und Leitenden Ungleichgewichte: Je jünger die Kinder, je weniger angesehen die Schulform, um so mehr Lehrerinnen arbeiten dort; im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich sind Lehrerinnen immer noch eher die Ausnahme; ihr Anteil an den Schulleitungen ist nach wie vor niedrig.

Die Multikulturalität der Gesellschaft wird im schulischen Bereich überwiegend noch als Problem, statt als Chance gesehen. So wird bisher weder die Multilingualität der Schülerschaft genutzt, noch sind Konzepte für die Vermittlung von Englisch als lingua franca breit realisiert. Kinder von Zuwanderern (Arbeitsmigranten, Asylbewerber, Russlanddeutsche) haben kulturell-ethnisch wie sozial besondere Nachteile. Bisher ist es nicht gelungen, zur Überwindung dieser Nachteile überzeugende Konzepte zu entwickeln.

Im Forum III wurden diese Fragen genauer bearbeitet, indem neben Analysen auch Strategien und Forderungen formuliert wurden. Am Schluss des Tages wurden Empfehlungen zusammengetragen, auf welchen Wegen Chancengleichheit und Gerechtigkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erreicht werden können. Sechs Grundsätze lassen sich dafür benennen:

1. Früherziehung ist entscheidend:

Der Elementarbereich wird noch zu sehr als Aufbewahrungsort verstanden. Da insbesondere die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit in den ersten Lebensjahren entwickelt wird, muss es darum gehen, die Kindergartenzeit als Bildungszeit zu nutzen. Um dies zu realisieren, sind sowohl eine verbesserte Ausbildung der Erzieherinnen wie die Bereitstellung von geeigneten, d.h. auch gut ausgestatteten Kindertagesstätten notwendig.

2. Fördern statt Auslesen:

Gute Schulen sind solche, bei denen zwei Kriterien zusammen kommen, nämlich einmal hohe Leistungen bei den Schülerinnen und Schülern, zum anderen zugleich ein geringer Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Auslese. Förderung muss sich, um dies zu erreichen, auf die individuelle Förderung beziehen. Grundsatz muss die Förderung aller Schülerinnen und Schüler sein. Sozialen Lernprozessen und Integrationsfragen muss ein hoher Stellenwert zukommen.

3. Stärke durch Vielfalt:

Ein Paradigmenwechsel vom Streben nach größtmöglicher Homogenität hin zu "welcoming and drawing strength from diversity" ist ein zentrales Ziel. Unser Bildungssystem setzt zu großen Teilen noch auf Homogenisierung: Altersjahrgänge sind das Strukturprinzip, Lehrpläne vereinheitlichen die Curricula, drei verschiedene Schultypen in der Sekundarstufe I separieren, um Heterogenität zu verringern. Heterogenität und Vielfalt erscheint in den pädagogischen Diskussionen vor allem als ein zu bewältigendes Problem, weit weniger als eine Herausforderung, mit der positive Chancen verbunden sind. Auf allen Ebenen würde die Wertschätzung von Heterogenität bedeuten, beim jeweils anderen von Kompetenzen auszugehen, die in gemeinsames Lernen eingebracht werden - und nicht von Defiziten, die Lehrende mehr oder weniger erfolgreich aufzufüllen hätten. Ein Paradigmenwechsel vom Streben nach größtmöglicher Homogenität hin zu "welcoming and drawing strength from diversity" ist ein zentrales Ziel. Unser Bildungssystem setzt zu großen Teilen noch auf Homogenisierung: Altersjahrgänge sind das Strukturprinzip, Lehrpläne vereinheitlichen die Curricula, drei verschiedene Schultypen in der Sekundarstufe I separieren, um Heterogenität zu verringern.

4. Ganztagsbetrieb bei gleichzeitiger Öffnung von Schule:

Lernarrangements, die Vielfalt ermöglichen, benötigen mehr Zeit, allerdings nicht mehr 45-Minuten-Einheiten. Ganztagsschulen entlasten nicht nur erwerbstätige Eltern, sie ermöglichen auch die Realisierung neuer Ansätze wie z. B. veränderter Lernformen und einer verstärkten Berufsorientierung in allen Schulen. Die Verschiedenheit der beruflichen Möglichkeiten, aber auch ihre Verflechtung mit außerberuflichen Lebensperspektiven, beides kennen zu lernen sollte Teil schulischer Bildung sein.

5. Soziale Brennpunkte:

Für soziale Brennpunkte ist eine spezifische Strategie der Stadtteilentwicklung, bei der Jugendhilfe eine wichtige Rolle spielt, notwendig. Schulen in solchen Stadtteilen bedürfen einer besonders guten Ausstattung.

6. Berufliche Bildung:

Wege der beruflichen Bildung sind so auszugestalten, dass sie einen eigenständigen, dem Abitur vergleichbaren Zugang zur Hochschule vermitteln können. Eine Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung, für die Kollegschulen gangbare Wege aufweisen, bleibt das Ziel solcher Bemühungen.

Insgesamt heißt das: Schulen der Zukunft müssen als "Häuser des Lernens" gestaltet werden. Neben den genannten Zielperspektiven, die zugleich Strategien angeben wie Ganztagsbetrieb, Öffnung von Schule, Berufsorientierung, gehören organisatorische Formen dazu, die Fördern und Vielfalt zulassen. Die Gliederung großer Schulen in kleine eigene Einheiten sind ein wesentliches Mittel zur Verbesserung.

Die Stärkung der Einzelschule in den Entscheidungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Explizierung von Schulprogrammen und -profilen und der Gewährleistung ihrer internen wie externen Evaluation wären Wege, um Stärke durch Vielfalt zu ermöglichen. Das Ziel Chancengleichheit ist in Schulprogramme aufzunehmen, d. h. es muss für die jeweilige Schule in operationalisierbare Maßnahmen überführt werden.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

-Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen schulischer Arbeit:
- Stefanie Wahl
- Norbert Hocke

Round-Table 2:
Auslese und Förderung - Förderung statt Aussonderung:
- Sonja A. Schreiner
- Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Round-Table 3:
Wege zur Überwindung von Benachteiligungen
- Ingrid Wenzler
- Sybille Volkholz