Potsdamer Konferenz - Forum III
Sonja A. Schreiner Was kann Gender-Mainstreaming für den Schulbereich heißen?
Zur Einstimmung eine dpa-Meldung vom April diesen Jahres:
Im Rückblick auf noch nicht 100 Jahre, seitdem Mädchen in Deutschland zum Gymnasium und dann zur Universität zugelassen wurden, stehen diese Zahlen zum Bildungsstand der Mädchen für eine Erfolgsgeschichte. Der Schulerfolg der Mädchen hat sich gewissermaßen als unbeabsichtigte Nebenwirkung der Demokratisierung der Bildungsbeteiligung eingestellt. Schlägt nun die Stunde der Jungen? Was wurde an ihnen versäumt?
Die Untersuchung "Aspekte der Lernausgangslage" (Hamburg 1997) bestätigt differenziert, statistisch signifikant, die allgemeine Überlegenheit der Mädchen hinsichtlich der über Testergebnisse ermittelten Schulleistung. Aber es gibt dabei einen Schönheitsfehler: der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und beruflichem Erfolg, den die Alltagstheorie unterstellt, ist im Falle der Mädchen brüchig. Sie können diese Erfolge nicht entsprechend beruflich, gar karrierefördernd nutzen, denn der Arbeitsmarkt ist noch weitgehend geschlechtsspezifisch, ja geschlechtshierarchisch zu Lasten der (jungen) Frauen aufgeteilt, und dies hat Rückwirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung beider Geschlechter.
Und damit bin ich beim zweiten Teil der erwähnten dpa-Meldung: "Was die Mädchen - möglicherweise - den Jungen an Intelligenz voraushaben, könnten die Jungen durch ihr offensichtlich stärker ausgeprägtes Selbstbewusstsein wieder wett machen. Der Glaube an die eigene Kompetenz und Fähigkeit zur Lösung einer bestimmten Aufgabe kann im höchsten Grade motivierend sein, selbst wenn er nicht fundiert ist, schrieben Wissenschaftler im Fachjournal 'Child Development'".
Zu Begriff und Verständnis von "Gender-Mainstreaming":
Gender-Mainstreaming als gleichstellungspolitische Strategie bedeutet, die Geschlechterperspektive von vornherein und als strukturierendes Prinzip in alle politischen Konzepte und in alle Phasen von Entscheidungsprozessen zu integrieren. Gleichstellungspolitik ist keine zusätzliche Aufgabe, sondern wird im Rahmen etablierter Politikfelder betrieben.
Der wichtige Unterschied zu bisherigen Politikansätzen besteht darin, dass die Gleichberechtigungsperspektive "von oben", "von Anfang an" und "überall" zur Geltung kommt und dass beide Geschlechter gleichermaßen in den Blick genommen werden. Es geht darum "die Unterschiede zwischen den Lebensverhältnissen, den Situationen und Bedürfnissen von Frauen und Männern systematisch ... zu berücksichtigen" (EU-Kom. 96/67).
Kann dieser Ansatz fruchtbar für den Schulbereich gemacht werden? Ich meine ja, denn der vorgeschlagene Perspektivwechsel führt nicht nur hinaus über den generellen Defizit-Verdacht bezogen auf die Mädchen, der die Frauenpolitik der 70er und auch noch 80er Jahre prägte, er hypostasiert auch nicht augenscheinliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, Frauen und Männern als solche, sondern er fasst das Geschlechterverhältnis als Beziehungsgefüge ins Auge und wird damit anschlussfähig an neuere theoretische Diskussionen in der Frauenforschung (Hagemann-White 1998).
Ausgehend davon, dass das weibliche und das männliche Geschlecht eine zentrale Ordnungskategorie unserer sozialen Wahrnehmung ist, fungieren Weiblichkeit und Männlichkeit gewissermaßen als "Platzanweiser" im sozialen und symbolischen System der Zweigeschlechtlichkeit. Wir alle finden uns in diesem System wieder, im sozialen Rollenspiel platzieren wir unser Gegenüber auf dieser Bühne entsprechend unseren Erwartungen und dem manifestierten Verhalten.
Eine Berichterstattergruppe des Europarates erklärt hierzu, dass die Probleme nicht darin bestünden, dass es Unterschiede gäbe, sondern dass sie mit einer hierarchischen Rangordnung verbunden seien und die Gefahr bestehe, dass alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen an der männlichen Norm gemessen würden (Europarat 1998: 17). In unserem Sprachgebrauch finden wir viele Spuren, so, wenn etwa von der "Feminisierung des Lehrerberufs" gesprochen wird, nicht aber z. B. von der "Maskulinisierung von Pflegeberufen" (früher rein weiblich).
Will sie beiden Geschlechtern gerecht werden, muss die Schule diese Normierungen unterlaufen. Der Europarat formuliert: Bildung "muss für ein Gegengewicht gegen die bestehenden geschlechtsspezifischen Hierarchien sorgen". Im pädagogischen Prozess kommt es darauf an, die Alltagstheorien über erwartetes Verhalten von Mädchen und Jungen zu reflektieren, denn auf der Ebene der individuellen Persönlichkeitsmerkmale sind die Grenzen zwischen den beiden Geschlechtern fließend. Mädchen und Jungen zeigen in verschiedenen Situationen mehr oder weniger typisch "männliche" bzw. "weibliche" Verhaltensweisen. Das lässt sich beispielsweise im Vergleich des Verhaltens in geschlechtshomogenen zu dem in -heterogenen Gruppen beobachten (Schütze 1993).
Erziehungsziel müsste sein, Mädchen wie Jungen dabei zu unterstützen, ihre "männlichen" wie "weiblichen" Anteile in je individueller Mischung zu entwickeln. Die EU-Kommission spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die allgemeine und berufliche Bildung dadurch zur Chancengleichheit beitragen können, "dass das Bewusstsein der beteiligten Akteure für alles geschärft wird, was mit der Ausweitung der Wahlmöglichkeiten zu tun hat". Konkret würde eine konsequente Umsetzung des Gender-Mainstreaming im Schulwesen bedeuten, dass sämtliche Strukturvorgaben und sämtliche typischen pädagogischen Prozesse daraufhin untersucht werden müssen, inwieweit dort einengende Zuschreibungen für das eine wie das andere Geschlecht regelhaft angelegt sind.
Zum gegenwärtigen Stand:
Geschlechtsunterschiede:
Faulstich-Wieland (1998) vermutet, dass die "Dramatisierung" der Unterschiede möglicherweise gerade das Gegenteil des Gewünschten zur Folge haben könnte, weil Kenntlichmachen von Unterschieden heißen kann: Festlegung auf bestimmte Geschlechtseigenschaften, so dass am Ende die Hierarchie der Geschlechter erneut ins Bewusstsein gehoben statt eingeebnet würde.
Gewiss sind Geschlechtsunterschiede nicht immer nur als Problem wahrzunehmen bzw. zu behandeln (es gibt auch höchst angenehme Seiten derselben!). Jedenfalls ist der Umgang mit ihnen - gerade im Lebenslauf - nicht statisch. Im Unterschied zu Meyer und Seidenspinner behaupte ich aber: Wo Gruppenbindungen ins Wanken geraten und soziale Milieus ihre kulturelle Prägekraft einbüßen, gewinnt das Geschlecht unabhängig von der sexuellen Orientierung als Medium der Selbstdarstellung Bedeutung, und das gilt auch für die Schule. Hier treffen wir auf junge Frauen und junge Männer bzw.
Mädchen und Jungen, die vor allem in der Pubertät sich aufs Heftigste und auf manchmal ungewöhnliche Weise als solche "inszenieren" und dabei wahrgenommen werden wollen. Es spricht in der Tat vieles dafür, nicht zu dramatisieren; z. B. kann es sinnvoll sein, gelegentlich den RollenspielerInnen die Bühne zu entziehen und Mädchen und Jungen mit ihresgleichen ins Verhältnis zu setzen, sprich, geschlechtshomogene Gruppen zu bilden. Je mehr dies selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltags ist (siehe Laborschule Bielefeld), desto weniger entstehen die oben beschriebenen Wirkungen, nämlich die Festigung von Stereotypen.
Differenzierungserfordernisse:
In der erziehungswissenschaftlichen Forschung wird grundsätzlich nicht mehr bestritten, dass Unterschiede im Leistungsvermögen, im Interessenspektrum und in den Haltungen gegenüber Schule und Lernen sich auch entlang der Konstrukte männlich/weiblich aufklären lassen. Es ist deswegen unverständlich, dass viele Studien oder statistische Analysen auf die Erschließung dieser Differenz noch immer verzichten. Die Wissens-Basis für sinnvolle Differenzierungen könnte noch viel mehr verbreitert werden, wenn beispielsweise alle nationalen wie internationalen Vergleichsuntersuchungen konsequent ihr Material auch entlang der Geschlechterkategorie auswerten und präsentieren würden.
Wenn die professionelle Planung und Gestaltung von Lehr-Lernprozessen im fachlichen wie sozialen Lernfeld den Kern der pädagogischen Kompetenz ausmacht, dann müssen die Interessen und Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler auch entlang von Geschlechterdifferenzen in den Blick genommen werden - aber eben nicht ausschließlich: die Kunst besteht genau in der sensiblen Wahrnehmung der Unterschiede als Teil eines Beziehungsgefüges, ohne endgültige Festlegungen zu treffen.
Beide Geschlechter zu berücksichtigen heißt konkret, dass nicht nur Verhalten und Lernerfolge der Jungen als Norm gesetzt, sondern die Bedingungen dafür analysiert werden, weshalb z. B. viele Jungen in sprachlichen Fächern unterhalb ihrer Möglichkeiten bleiben oder weshalb sie so viel häufiger in der Schule mit Verhaltensproblemen auffallen. Öffentlich diskutiert wird dagegen das mangelnde Engagement von Mädchen für Naturwissenschaften und Technik, als lägen hier spezifische Defizite vor. Bei Mädchen wie bei Jungen sind diese Interessenprofile im Zusammenhang mit einengenden Geschlechterstereotypen zu erklären, die den Mädchen "das Soziale" und den Jungen "die Technik" zuweisen.
Ausbuchstabieren:
Dank vieler Modellversuche und theoretischer Studien hat sich das Wissen über den manifesten und den heimlichen Lehrplan der Geschlechtererziehung in der Schule deutlich vermehrt. Inzwischen ist z. B. unbestritten, dass eine phasenweise Trennung der Geschlechter positive Auswirkungen auf Motivation und Leistung vor allem bei Mädchen haben kann; gleichzeitig zeigen die Modellversuche, dass die Trennung im Unterricht nur eine Form der Differenzierung mit begrenzter Wirksamkeit ist, weil das Geschlechterverhältnis dadurch nicht aufgehoben wird.
Es ist aber auch deutlich geworden, dass der Erwerb der Geschlechtsrolle, das "doing gender" nicht nur für Mädchen gilt, sondern auch für Jungen. Solange das Männliche stillschweigende Norm war, konnte diese Erkenntnis nicht reifen.
An einem aktuellen Beispiel, das zur Zeit bildungspolitische Schlagzeilen macht, soll skizziert werden, auf welche Felder Gender-Mainstreaming als bildungspolitischen Strategie sich erstrecken müsste. Es geht um die sog. Kopfnoten, die Bewertung des Sozial- und des Arbeitsverhaltens. Es ist überraschend, dass außer Hannelore Faulstich Wieland, die hierzu eine Glosse in der E & W Niedersachsen 11/99 verfasst hat, bisher niemand auf die Idee gekommen ist, dass hier ein Tummelplatz zur Verstärkung von Geschlechterstereotypen aufgemacht wird. Schülerinnen und Schüler entwickeln ihre Arbeitsstile und zeigen sich in ihrem Sozialverhalten natürlich auch als Mädchen und Jungen, ebenso, wie die Wahrnehmung durch andere nicht geschlechtsneutral sein kann.
Und daher kann auch die Bewertung nicht "neutral" bzw. "objektiv" sein. Eine verantwortungsvolle, valide Bewertung setzt voraus, dass der Blick der Lehrkräfte für rollentypische Stärken und Schwächen geschärft wäre und dass die Bewertungsmaßstäbe hinsichtlich ihres Geschlechter"bias" geprüft würden. Selbstverständlich ist auch von kulturellen bzw. schichtspezifischen "blinden Flecken" auszugehen. Bei den modernen Kopfnoten sollen nicht mehr Fleiß und Betragen gewertet werden (dabei schnitten schon immer die Mädchen besser ab), sondern solche Dimensionen wie
Um den Bogen zum Anfang zu schlagen: Wollte man die Kopfnoten in einem Geschlechterstereotype abbauenden pädagogischen Sinne vergeben, so müssten für die Bewertung von Mädchen Dimensionen eingeführt werden wie Selbstvertrauen, während Jungen lernen müssten, die metakognitive Eigenschaft der "realistischen Selbsteinschätzung" zu trainieren. Wie immer die Sinnhaftigkeit von Kopfnoten eingeschätzt wird - im Sinne des Gender-Mainstreaming wäre es, eine Erprobungsphase vor die Einführung zu schalten und zu untersuchen, ob und welche unterscheidbaren "Mädchen-" respektive "Jungenprofile" deutlich werden.
Literatur:
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Einführung/Thesenpapier/ Bericht -Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland
Round-Table 1:
Round-Table 2:
Round-Table 3: |