Potsdamer Konferenz - Forum III

Sybille Volkholz

Individualisierung, Leistungsorientierung und Chancengleichheit

Mit dem Paradigma der "Chancengleichheit" ist eine bildungspolitische Reformphase in der Bundesrepublik Deutschland verbunden, die wesentlich von quantitativen Formen geprägt war.

Die Bildungsbeteiligung hat sich seit den 60er Jahren erheblich erhöht, der Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen und die Zahl der Schulabschlüsse sind erheblich gestiegen. Die Zahl der AbiturientInnen hat sich in den letzten dreißig Jahren verdreifacht. Die Zahl derjenigen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, ist im vergleichbaren Zeitraum gesunken. Mit ca. 10 % (30 % bei Kindern von Migranten in Berlin) ist sie allerdings immer noch nicht akzeptabel.

Die Orientierung an "Chancengleichheit" hat den pädagogischen Grundsatz, dass alle Kinder in der gleichen Zeit das Gleiche zu lernen haben, nicht reformiert. Der Umgang mit Heterogenität und Individualität ist nicht genügend in das Blickfeld geraten. Die unterschiedlichen Zugangschancen zu Bildung aufgrund soziokultureller Faktoren sind heute differenzierter zu untersuchen. So haben Kinder von Migranten erheblich schlechtere Chancen, gute Schulabschlüsse zu erreichen, auch Kinder von Alleinerziehenden.

Die Öffentlichkeit will angesichts des hohen Ressourcenverbrauchs und auch der Zeit, die Jugendliche in Bildungseinrichtungen verbringen, Rechenschaft darüber, was in den Einrichtungen erreicht wird.

Bildung erhält zunehmendes Gewicht bei der Zuteilung von Lebenschancen. Jugendliche stehen auf dem Arbeitsmarkt heute unter einem erheblichen Konkurrenzdruck, auch deshalb wird stärker nach den Leistungen gefragt. Eltern sind zunehmend kritischer und sie wollen genauer hinschauen könne, was die einzelne Schule für ihre Kinder anbietet. Die Öffentlichkeit will angesichts des hohen Ressourcenverbrauchs und auch der Zeit, die Jugendliche in Bildungseinrichtungen verbringen, Rechenschaft darüber, was in den Einrichtungen erreicht wird. Mit dem Verweis auf die einheitlich geltenden Rahmenpläne ist die Wissbegier von Eltern nicht zu befriedigen, denn jeder weiß, dass diese keine Garantie für entsprechende Leistungen bei SchülerInnen sind.

Studien über Leistungsvergleiche von SchülerInnnen haben auf der Suche nach Antworten darauf zur Zeit Hochkonjunktur. Die dritte internationale Studie über die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von 14-jährigen (TIMSS), die Studie über Bildungsverläufe Jugendlicher (BIJU), das Programm for International Student Assessment (PISA) oder "Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik" (QUASUM), sind anspruchsvolle Projekte, die Antworten auf die Fragen finden wollen: Was leisten unsere Schulen, was können eigentlich SchülerInnnen nach etlichen Jahren Schulbesuch?

Der Zugang zu Abschlüssen und weiterführenden Bildungseinrichtungen, auch den Hochschulen ist vielfältiger geworden. Die Diskussion der Abnehmer (Wirtschaft und Hochschulen) über die Aussagekraft von Abschlüssen nimmt zu. Die immer wiederkehrenden Klagen der Abnehmerseite - seien es die der Hochschulen oder der Wirtschaft - über mangelnde Fähigkeiten von Auszubildenden oder Studierenden können nicht nur abgewehrt werden. Es muss zumindest gefragt und untersucht werden, ob ihre Klagen einen realen Kern haben. Eine größere Transparenz ist deshalb vonnöten. Wenn die Vergabe von Berechtigungen weiterhin bei der Schule liegen soll, muss die Validität der Abschlüsse verbessert werden.

Die Schule und die an ihr Beteiligten müssen sich die Sichtweise auf Ergebnisse nicht nur gefallen lassen, sie müssen ihre eigene Orientierung verändern. Die pädagogische Arbeit orientiert sich daran, was mit dem Unterricht vermittelt wird, an der Wissensweitergabe. Die Instrumente der Wirksamkeitskontrolle reichen nicht über die Klassenarbeit hinaus.

Natürlich liegt die Gefahr nahe, dass mit den Untersuchungen über Leistungsvergleiche abfragbares Wissen überbewertet wird. Dies hängt aber davon ab, wie von den Akteuren in Bildungseinrichtungen und wie bildungspolitisch auf die zunehmende Forderung nach Transparenz reagiert wird. Der Vergleich von Leistungen darf nicht bei den mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen stehen bleiben. Es gibt Methoden, auch so genannte Schlüsselqualifikationen zu erfassen. Ebenso kann die Bereitschaft zum sozialen Engagement Gegenstand von Schuluntersuchungen sein. Wie gestaltet eine Schule ihr Schulleben, was wird außerhalb des Unterrichts für SchülerInnen angeboten?

Das englische System der Schulinspektion macht ausdrücklich die Schulatmosphäre zum Gegenstand der Bewertung von Schulen. Es geht bei den Untersuchungen auch nicht darum, die schlichte Tatsache festzustellen, dass Schulen höchst unterschiedliche Ergebnisse je nach Einzugsgebiet und Zusammensetzung der Schülerschaft erzielen können. Für diese banale Erkenntnis bräuchte man in der Tat kein Geld auszugeben.

Gute Untersuchungen berücksichtigen die Eingangsvoraussetzungen der Schüler und messen die schulischen Ergebnisse an den daraus abgeleiteten Erwartungshorizonten. Man kann also sehr wohl Aussagen dazu erhalten, was die einzelne Schule aus ihren SchülerInnen herausholt. Die Hamburger Untersuchung über "Aspekte der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen" hat dies geleistet. Sie belegt nicht nur, dass Schulen mit unterschiedlicher Sozialstruktur unterschiedliche Schülerleistungen aufweisen, sie belegt auch, dass Schulen mit ähnlicher Sozialstruktur höchst unterschiedliche Ergebnisse bei ihren SchülerInnen bewirken.

Die TIMSS-Studie weist ausdrücklich darauf hin, dass im internationalen Vergleich nicht die Schulform als Faktor entscheidend ist für die schulischen Leistungen, nicht das Türschild der Schule, sondern die Qualität der einzelnen Schule. Und diese bestimmt sich offensichtlich durch andere Faktoren. Welche diese aber sind, darüber gibt es viele Vermutungen und wenig Klarheit, geschweige denn Konsens.

Wer den Auftrag der Schule ernst nimmt, dazu beizutragen, dass Nachteile von Bildungschancen aufgrund sozialer Herkunft verringert werden, muss sich diesen Fragestellungen intensiv widmen. Offensichtlich muss man sich die Wirkungsweise des Unterrichts, die pädagogische Arbeitsweise der Schule sehr viel genauer ansehen. Es wird sich dann sehr wohl zeigen, dass die vermeintlich privilegierten Schulen in den eher gutbürgerlichen Bezirken durchaus nicht per se pädagogisch optimal arbeiten und manche Kreuzberger Kiezschule ihre SchülerInnen fördert, so gut sie kann.

Kinder müssen in ihrer Entwicklung zu selbstbewussten Persönlichkeiten unterstützt, die Schule zum Lern- und Lebensort gemacht werden, die von einem Klima gegenseitiger Achtung und Förderung getragen ist.

Dies würde zu einer anderen Diskussion über das, was die Schule leisten soll, führen und Ansätze für eine qualitative Weiterentwicklung der Schule liefern. Wir brauchen die Verständigung über Standards, was in den Fächern in den verschiedenen Klassenstufen gelernt werden und was an Fähigkeit verfügbar sein sollte. Dann kann gezielt darüber beraten werden, wie Schulen, die bei ihren SchülerInnen diese Leistungen nicht erreichen, gezielt unterstützt werden können. Die Forderung nach mehr Chancengleichheit kann dadurch mit mehr Substanz versehen werden.

Die Schule hat nicht nur die Aufgabe, fachliche Leistungen zu erzielen. "Die Menschen zu stärken und die Sachen zu klären" (v. Hentig) erfordert mehr. Es erfordert, Kinder in ihrer Entwicklung zu selbstbewussten Persönlichkeiten zu unterstützen, die Schule zum Lern- und Lebensort zu machen, die von einem Klima gegenseitiger Achtung und Förderung getragen ist. Wie dies gestaltet wird, darüber braucht es mehr Transparenz nach außen.

Dies setzt allerdings von allen Beteiligten die Bereitschaft voraus, Fragen von Eltern und der Öffentlichkeit zu zulassen und sich hierbei in die Karten gucken zu lassen. Das nennt man Evaluationskultur. Oberstes Kriterium für die Vergleiche ist die Frage, was für die Entwicklung der Schule, der einzelnen Schule, den Unterricht gelernt werden kann und wie die Hilfen für die Schulentwicklung aussehen. Es geht nicht um das schlichte Sammeln von Daten, sondern um die Nutzung von Informationen für die qualitative Verbesserung der Schulen.

Die "empirische Wende" der Erziehungswissenschaft und der Schulforschung kann einen entscheidenden Schritt zur Schulentwicklung und zum besseren pädagogischen Nutzen für Schülerinnen und Schüler bedeuten.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

-Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen schulischer Arbeit:
- Stefanie Wahl
- Norbert Hocke

Round-Table 2:
Auslese und Förderung - Förderung statt Aussonderung:
- Sonja A. Schreiner
- Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Round-Table 3:
Wege zur Überwindung von Benachteiligungen
- Ingrid Wenzler
- Sybille Volkholz