Potsdamer Konferenz - Forum III

Ingrid Wenzler

Thesen zu den Möglichkeiten der Gesamtschule

These 1:

Keine Schule, kein wie auch immer strukturiertes Schulsystem, kann die vorhandenen Benachteiligungen von Kindern im Schulsystem überwinden, kann Chancengleichheit herstellen, wenn dies nicht das Ziel der Gesellschaft und Politik insgesamt ist.

Ein Beleg dafür ist das Schulsystem der USA. Es ist zwar als einheitliches Schulsystem organisiert. Durch die kommunale Zuständigkeit für die Schulen haben die extremen ökonomischen Unterschiede der Schulträger massive Auswirkungen auf die Bildungschancen der Kinder. Die regionale finanzielle Ungleichheit verhindert Chancengleichheit.

Dagegen berichtet Fend aus der ehemaligen Sowjetunion mit ihrem einheitlichen Schulsystem: "So erschiene in der Sowjetunion eine Opposition gegen die bestmögliche Förderung der Hochbegabten ebenso unverständlich wie die Perspektive, dass Hochbegabung ein natürliches Anrecht auf zukünftige Privilegien enthält. Die Sozialpflichtigkeit von Hochbegabung scheint hier ideologisch und institutionell verankert." (Qualität im Bildungswesen 1998: 35) Er weist hier explizit auf die Untrennbarkeit von Zielen der Schule und der Gesellschaft hin.

Eine Gesamtschule, wie sie sich die GGG vorstellt, ist in keinem Bundesland realisiert: als ersetzende Schule an Stelle der Mehrgliedrigkeit.

In Deutschland ist selbst die Möglichkeit der Erforschung der "schichtspezifischen Selektion" in den Schulen geschwunden: Seit 1991 werden entsprechende Sozialdaten im Mikrozensus nicht mehr erhoben, so dass sich in der Sekundarstufe I der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung nicht mehr erheben lässt. (Böttcher/ Klemm 1995: 223) Auch der Umgang mit dem Hauptschulteil der TIMSS-Ergebnisse ist ein Indiz für das abwesende gesellschaftliche Interesse an der Förderung Aller: die sehr schlechten Ergebnisse scheinen niemandem ein Problem zu sein. Jedenfalls ist nirgends eine öffentliche Debatte erkennbar, deren Ziel es ist, diese Schüler und Schülerinnen verstärkt zu fördern.

These 2:

Ziel der GGG bleibt die eine Schule für alle Kinder. Diese Schule macht es sich zum Ziel, alle Kinder gemeinsam und individuell optimal und vielseitig zu fördern:
  • Jungen und Mädchen,
  • Kinder mit Deutsch und mit anderen Sprachen als Muttersprache,
  • unabhängig von den Begrenzungen und Erschwernissen des Elternhauses,
  • ob körperlich, geistig oder im Verhalten beeinträchtigt oder nicht.
Diese die Trennung der Schulformen überwindende Gesamtschule muss im Fall ihrer Einführung eine ihr entsprechende Pädagogik und Didaktik entwickeln - natürlich im Zusammenwirken mit den Universitäten, der Lehreraus- und -weiterbildung, und durch produktive Nutzung ausländischer Erfahrungen. Diese Gesamtschule ist aber gegenwärtig in keinem Bundesland realisiert. Ansprüche, die an sie zu richten sind, können keinesfalls von der Gesamtschule als konkurrierender Schulform neben der Mehrgliedrigkeit des übrigen Schulwesens erwartet werden.

These 3:

Unsere heutige Gesamtschule muss unter in vieler Hinsicht uneigentlichen Bedingungen arbeiten:
  • gegen den vorherrschenden Zeitgeist der Konkurrenz und des rat race,
  • ohne die Möglichkeit, ihre Binnenstruktur gemäß ihren Bildungszielen selbst zu gestalten,
  • ohne spezifisch ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen und mit Erwartungen an sie, die sinnvoll nur an die ersetzende Gesamtschule zu richten sind.
Doch erinnert die gegenwärtige integrierte Gesamtschule daran, doch hält diese Gesamtschule Idee und Anspruch aufrecht, dass die Einteilung von Kindern in hierarchisch geordnete Schulformen im so frühen Kindesalter schlecht ist und überwunden werden sollte. Selbst unter diesen schwierigen Bedingungen haben die bestehenden Gesamtschulen viel vorzuweisen, was Chancengleichheit erhöht:

Soziale Ungleichheit:

Soziale Selektion findet nicht primär in der Schule statt, sondern vorher, beim Prozess der Auslese in die Schule hinein (Tenorth 1994: 146). An dieser Nahtstelle zwischen Grundschule und Sekundarstufe I müsste sie also bekämpft werden. Daher ist auch verständlich, dass es quantitativ keine großen Veränderungen der sozialen Ungleichheit in der Schule seit den 60er Jahren gegeben hat. In der Gesamtschule beobachten wir, dass

  • mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten in höheren Leistungsniveaus lernen,
  • viele Abiturienten und Abiturientinnen die Ersten in ihrer Familie sind,
  • der Anteil der Schulversager niedriger ist als im Durchschnitt der anderen Schulformen
  • und der Anteil der höheren Schulabschlüsse durchschnittlich höher ist als im Schnitt der Schulformen.
Die Gesamtschule ist die wichtigste Aufstiegsinstitution für junge ausländische Mitbürger.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Dissertation von Sabine Brendel: Fast alle Grundschullehrerinnen, die aus Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet stammten, kamen über die Gesamtschule an die Hochschulen.

Mädchen:

Bei Mädchen ist die schulformspezifische Auslese besonders eklatant: Der Anteil lernstarker und sozial kompetenter Mädchen in den Gesamtschulen ist vergleichsweise gering. Sind sie auf der Gesamtschule, so ist dies ein besonders günstiges Entwicklungsfeld für ihr Selbstbewusstsein und ihre Lernresultate. Dagegen finden sich viele Mädchen mit schwierigen Biographien an Gesamtschulen. Sie stellen hohe Anforderungen an die pädagogische Arbeit, auf die in vielen Gesamtschulen individuell und durch Entwicklung neuer Konzepte geantwortet wird.

So ist die reflexive Koedukation in vielen Gesamtschulen entwickelt und - mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen - selbst evaluiert. Überdurchschnittlich viele Gesamtschulen beteiligen sich in NRW an Förderprogrammen zur Mädchenförderung (Berufswahl, Selbstverteidigung, Räume, weibliche Identität und Lebensplanung). Nicht zufällig wurde an diesen Schulen auch die Notwendigkeit gezielter Förderung der Jungen sichtbar und angepackt.

Kinder anderer Muttersprache:

Der Anteil von Kindern mit anderer Muttersprache ist an Gesamtschulen durchschnittlich recht hoch, oft über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Schulisch (und schulkulturell) unproblematisch sind ausländische Mittel- und Oberschichtkinder. Besondere Herausforderungen stellen ausländische Kinder aus bildungsfernen Schichten dar. Es handelt sich hier also auch in erster Linie um ein soziales, weniger um ein nationales Problem. Gesamtschulen reagieren in vielfältiger Weise, um die Bildungsmöglichkeiten dieser Kinder zu verbessern - mit guten Ergebnissen, wie in der Schrift "Schule in Berlin" der Arbeitsgruppe der SPD-Kommission "Berliner Bildungsdialog" (1999:11) vermerkt wird: "Die Gesamtschule ist die wichtigste Aufstiegsinstitution für junge ausländische Mitbürger."

Gesamtschulen antworten mit vielfältigen Förderkonzepten auf die pädagogischen Herausforderungen ihrer SchülerInnenschaft.

Förmliche Angebote in den Gesamtschulen sind: Türkisch als Wahlpflichtbereich (z. B. an Stelle der 2. Fremdsprache) und vielfach muttersprachlicher Unterricht. In vielen Gesamtschulen gehört ein/e türkischer Lehrer/Lehrerin selbstverständlich zum Kollegium. Der Förderung der deutschen Sprache wird erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet. So entstand über Erfahrungslernen sehr viel Wissen über Sprachlernprozesse bei Migrantenkindern.

Kinder mit Behinderungen:

Ungefragt füge ich die Gruppe der Kinder mit Behinderungen der Beschreibung hinzu. Das größte Handikap im Bereich des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen sind die materiellen Bedingungen der Klassengröße und der Lehrerzuweisung, teilweise auch die bauliche und sächliche Ausstattung der Schule. In NRW gibt es mehr Anträge von Gesamtschulen auf zieldifferenten gemeinsamen Unterricht als haushaltsrechtlich genehmigt werden können. Das Interesse ist groß. Es gibt in einer wachsenden Zahl von Gesamtschulen zielgleichen gemeinsamen Unterricht, trotz großer Klassen (28).

Natürlich sind auch noch große Ängste vor der Einführung gemeinsamen Unterrichts vorhanden, insbesondere vor der befürchteten Überforderung. Dies prägt manchmal die öffentliche Wahrnehmung stärker als die nicht genehmigten Anträge von Schulen auf Integration behinderter Kinder mit zieldifferentem Lernen. Vorliegende Erfahrungen bestätigen die positiven Auswirkungen gemeinsamen Unterrichts auf alle Kinder.

These 4:

Entsprechend diesem Selbstverständnis als Schule der Chancengleichheit und der akzeptierten Heterogenität ihrer Schüler und Schülerinnen orientieren sich Lehrer und Lehrerinnen an Gesamtschulen an einem erweiterten Bildungsbegriff, der sich nicht auf Fachwissensvermittlung reduziert. Er ist Voraussetzung für die geschilderten Leistungen und wurde weitgehend autodidaktisch zu einer Praxis entwickelt, deren Grundlage und Ziel die aktuell weitest mögliche Überwindung vielfältiger Benachteiligungen ist, übrigens ohne Benachteiligung der lernstarken und "guten" Schüler und Schülerinnen.

Gesamtschulen stehen vor einem Dilemma: So gut sie dem selbst gestellten Förderanspruch für möglichst viele Kinder gerecht werden, so wenig trägt das im Konkurrenzsystem der Schulen zur erhöhten Wertschätzung der Gesamtschule bei.

Schlussfolgerungen:

Die deutlichste Grenze für die Verwirklichung von mehr Chancengleichheit in der Schule ist die hierarchisch gegliederte Struktur des Schulwesens. Diese Grenze ist unüberwindbar. Die Gesamtschule erinnert schon durch ihre bloße Existenz daran, dass es Alternativen zur Hierarchisierung von Kindern und der frühen Festlegung ihrer Lebenschancen gibt. Gegenwärtig sehen sich aber viele Gesamtschulen vor einem unlösbaren Dilemma: So gut sie dem selbst gestellten Förderanspruch für möglichst viele Kinder gerecht werden, so wenig trägt das im Konkurrenzsystem der Schulen zur erhöhten Wertschätzung der Gesamtschule bei.

Wer mehr Chancengleichheit im Bildungssystem erreichen will, muss für die Einführung der Gesamtschule als der einen Schule für alle - die nicht im KMK-Zwangskorsett eingeschnürt bliebe - eintreten.

Literatur:

  • Böttcher, W. und K. Klemm: Bildung in Zahlen. Statistisches Handbuch zu Daten und Trends im Bildungsbereich. Juventa Verlag. Weinheim/München, 1995.
  • Brendel, S.: Arbeitertöchter beißen sich durch. Bildungsbiografien und Sozialisationsbedingungen von Frauen aus der Arbeiterschicht. Juventa Verlag, Weinheim und München 1998.
  • Fend, H.: Qualität im Bildungswesen. Schulforschung zu Systembedingungen, Schulprofilen und Lehrerleistung. Juventa Verlag. Weinheim/München, 1998.
  • Kommission 'Berliner Bildungsdialog': Schule in Berlin. Systemmerkmale-Problemzonen-Handlungsbedarf. Bericht der Arbeitsgruppe von J. Baumert u.a. SPD Fraktion. Berlin, 1999.
  • Tenorth, H-E.: Alle alles zu lehren. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt, 1994.


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

-Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland

Round-Table 1:
Rahmenbedingungen schulischer Arbeit:
- Stefanie Wahl
- Norbert Hocke

Round-Table 2:
Auslese und Förderung - Förderung statt Aussonderung:
- Sonja A. Schreiner
- Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Round-Table 3:
Wege zur Überwindung von Benachteiligungen
- Ingrid Wenzler
- Sybille Volkholz