Potsdamer Konferenz - Forum III
Norbert Hocke
Chancengleichheit von Anfang an
"Kinder fragen uns nicht, um Antworten zu hören, sondern um Instrumente zu bekommen, die das eigene Forschen erweitern."
(Vorschulpädagogik in reggio Emilia / klein & groß, Heft 5/97, Seite 10)
I.
Trotz dieser gesetzlichen Verankerung hat es von Seiten der Politik keine echten Bemühungen gegeben, die Tageseinrichtungen für Kinder enger an das Bildungswesen anzugliedern. "Der Schatz der frühen Kindheit verkommt in dieser Republik." Mit diesem Satz beschreibt Donata Elschenbroich, Mitarbeiterin des Deutschen Jugendinstitutes, mit drastischen Worten die Ignoranz gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Pädagogik der frühen Kindheit. Die gegenwärtige Diskussion um eine Bildungsreform nimmt die Erkenntnisse der frühkindlichen Pädagogik und deren Zusammenhänge für die Bildungsprozesse von Kindern nicht zur Kenntnis! Deutschland geht als einziges europäisches Land weiter nach dem alten Vorbild: Der Ernst des Lebens beginnt mit dem ersten Schultag.
Wenn Chancengleichheit zum zentralen Konzept einer Bildungspolitik werden soll, dann müssen die Jahre der frühen Kindheit mit in dieses Konzept einbezogen werden, ansonsten droht dieses Konzept - hierfür gibt es genügend wissenschaftliche Untersuchungen - zu scheitern!
II.
Die erste Funktion dieses Gesetzes und somit der Kinder- und Jugendhilfe ist unmittelbar die Herstellung von Chancengleichheit. Es richtet sich nicht an eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern bietet allen Kindern das Recht zur Entwicklung einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit an. Im § 9 (3) KJHG wird auf die hingewiesen, dass diese zu berücksichtigen seien, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern seien.
Damit wird bereits in frühen Jahren verdeutlicht, dass die Schaffung von gleichen Lebenslagen die grundsätzliche Voraussetzung für die Gleichberechtigung und somit auch Chancengleichheit von Mädchen und Jungen ist. Spätestens seit dem 6. Jugendbericht wird die Jugendhilfe aufgefordert, ihre eigene Diskriminierung im Verhältnis Mädchen-Jungen durch eigene Arbeitsansätze abzubauen, Die Jugendhilfe hat unbeachtet durch die anderen Institutionen, speziell der Institution Schule, in den letzten Jahren hervorragende Beispiele neuer konzeptioneller Arbeit begonnen.
Die definierte Aufgabe der Tageseinrichtungen für Kinder wird von der Politik zu sehr auf den Betreuungsaspekt reduziert und verpasst damit Chancen zur Förderung gleicher Lebensgrundlagen von Kindern zu gewährleisten.
In diesem Zusammenhang kommen gerade den Kinder- und Jugendberichten (§ 84 KJHG), den Jugendhilfeausschüssen auf kommunaler und Landesebene (§ 71 KJHG) sowie den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, den Jugendämtern, den Landesjugendämtern (§§ 69/70 KJHG) besondere Bedeutung zu. Auch aus diesen Gründen wird es unerlässlich sein, die Überlegungen des Bundesrates im Strukturlockerungsgesetz nach Verlagerung bzw. Abschaffung der Landesjugendämter deutlichst zu widersprechen. Gleiche Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen sind dann nicht mehr gewährt, wenn man der Kommune vor Ort dieses alleine überlässt.
III.
Neben der grundsätzlichen Aussage des KJHG im § 1 als Rechtsgrundlage für alle Kinder und Jugendlichen Persönlichkeitsbildung und -erziehung zu fördern, wird dieser Grundgedanke in einigen zentralen Paragraphen ausgestaltet: § 8 - Beteiligung von Kinder und Jugendlichen. Hier geht es um die Partizipation der Betroffenen - ein entscheidender Ansatz, um dem persönlichen Recht Geltung zu verschaffen. Der § 8 versucht in zentraler Bedeutung, die Beteiligungsrechte der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu stellen.
§ 13 (1) KJHG-Jugend/Sozialarbeit: Junge Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollten im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern.
Hiermit wendet sich die Jugendsozialarbeit in Abgrenzung zur Jugendarbeit, welche sich an alle Kinder und Jugendliche richtet, an solche jungen Menschen, die in "erhöhtem Maß auf Unterstützung angewiesen sind, also mehr als durchschnittlicher Förderungs- und Vermittlungsbemühungen in Ausbildung, Beruf und sozialer Integration bedürfen." Gerade hier sind in den letzten Jahren Konzepte der Mädchensozialarbeit entwickelt worden. Aus meiner Sicht müsste gerade in diesem Zusammenhang eine viel stärkere Kenntnis und Zusammenarbeit in Hinblick zwischen Schule und Jugendhilfe erfolgen.
Von weiterer grundsätzlicher Bedeutung für die Vermittlung oder Umsetzung der Chancengleichheit ist der § 22 KJHG - Grundsätze der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen - anzusehen. Im Absatz 2 dieses Paragraphen wird ausdrücklich darauf hingewiesen: die "Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes." Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren. Die definierte Aufgabe der Tageseinrichtungen für Kinder wird von der Politik zu sehr auf den Betreuungsaspekt reduziert und verpasst damit Chancen zur Förderung gleicher Lebensgrundlagen von Kindern zu gewährleisten. Dieser Aspekt wird umso dramatischer je höher die Kosten für einen Tagesstättenplatz steigen.
Es ist bereits heute festzustellen, dass, obwohl ein Rechtsanspruch im Gesetz verankert ist, über die Kitagebühren dieser de fakto außer Kraft gesetzt wird. Gerade in sozialen Brennpunkten wird sichtbar, dass ausländische Eltern ihre Kinder aufgrund der Kosten nicht in einer Einrichtung anmelden. Von daher müssen alle Initiativen darauf gerichtet sein, die Tageseinrichtung für Kinder als Bildungseinrichtung für Kinder kostenfrei zu gestalten, um somit in den elementaren Lebensjahren - als Voraussetzung der Chancengleichheit - den kostenfreien Besuch einer Tageseinrichtung zu gewährleisten.
Die §§ 27-36 KJGH - Hilfen zur Erziehung - stellen eine weitere Grundlage dar, Kindern gleiche Lebenschancen zu verschaffen und soziale Benachteiligungen abzubauen.
"Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfen zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet oder notwendig ist."
Absatz 3 umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundene therapeutische Leistungen. Sie soll bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 (2) KJHG einschließen. Das Wohl des Minderjährigen steht bei diesem Paragraphen im Vordergrund. Der Gesetzgeber geht hier von individuellen Rechtsansprüchen aus. Diese werden durch die Erziehungsberechtigten beantragt und unter Mitwirkung unterschiedlicher Professionen zu einem Hilfeplan für das Kind zusammengefasst. Welche Formen der Hilfe dann gewährt werden, muss dieser Hilfeplan ergeben. Hier besteht die Möglichkeit von der sozialen Gruppenarbeit über die Einzelfallhilfe bis hin zu einer Heimeinweisung.
IV.
Um der Beliebigkeit der Anwendung solch eines Gesetzes vorzubeugen, hat der Gesetzgeber in § 80 KJHG - Jugendhilfeplanung - ein grundlegendes, wie es heute Neudeutsch heißt, Steuerungselement eingebaut. Die Jugendhilfeplanung verpflichtet Träger der öffentlichen Jugendhilfe
"1. den Bestand an Einrichtungsdiensten festzustellen,
2. den Bedarf unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten für einen mittelfristigen Zeitraum zu ermitteln und
3. die zur Befriedigung des Bedarfs notwendige Vorhaben rechtzeitig und ausreichend zu planen; dabei ist Vorsorge zu treffen, dass auch ein unvorhergesehener Bedarf befriedigt werden kann."
Im Weiteren wird beschrieben, dass die Kontakte der Familie im sozialen Umfeld zu erhalten und zu pflegen sein müssen, ein möglichst wirksames und vielfältiges und aufeinander abgestimmtes Angebot zu gewährleisten ist, junge Menschen in Familien in gefährdeten Lebens- und Wohnbereichen besonders gefördert werden und Mütter Aufgaben in der Familie und der Erwerbstätigkeit besser miteinander vereinbaren können. Dieses wurde im 8. Kinder- und Jugendbericht als partizipations- und prozessorientierte Jugendhilfeplanung beschrieben. Die Standards sollen sich sozialräumlich und lebensweltorientiert umsetzen lassen. Der Stellenwert dieser Planung wird sehr hoch angesiedelt. Es wird von einer kommunalrechtlichen Verfehlung ausgegangen, wenn kein entsprechendes Konzept vorgelegt wird.
V.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bietet Handlungsmöglichkeiten, um gezielt im Bereich der Geschlechterfrage und der Multikulturalität Benachteiligungen abzubauen. Dies kann aber nur gelingen, wenn eine grundlegende Änderung der Sichtweisen über die institutionalisierte Erziehung und Bildung beginnt. Eine Abschottung der einzelnen Institutionen darf es auf Dauer im Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht länger geben. Das KJHG beschreibt im § 81 Ansätze der Zusammenarbeit.
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Einführung/Thesenpapier/ Bericht -Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland
Round-Table 1:
Round-Table 2:
Round-Table 3: |