Potsdamer Konferenz - Forum VI

Holger H. Lührig / Marion Lührig

Thesen zu Chancengleichheit und Multimedia

Die modernen Informations- und Kommunikationstechniken erweisen sich mehr und mehr als Schlüsseltechnologien. Sie haben eine Vielzahl innovativer Entwicklungen angestoßen und durch die Möglichkeiten einer räumlich-zeitlich-hierarchisch un-gehinderten Kommunikation grundlegende Veränderungen für Individuum und Gesellschaft mit sich gebracht.

Nicht von ungefähr sprechen wir daher an der Schwelle zum 21. Jahrhundert von einer Phase des Übergangs von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Im Zuge dieses Transformationsprozesses werden Bildung, Wissen und Innovationsfähigkeit zu entscheidenden Produktionsfaktoren der Zukunft. Die Aneignung und kreative Nutzung von Information und Wissen gehören künftig weltweit zu den Schlüsselqualifikationen des gesellschaftlichen Wohlstands.

1.
Definition von Chancengleichheit

In Zeiten globaler Vernetzung sind Politik- und Arbeitsfelder sowie die Art und Weise ihrer Bestellung zu überprüfen und ggf. zu verändern. Neue Aufgaben ergeben sich nicht nur für Wirtschaft und Politik, sondern auch für den Kulturbereich. Von der Bildungs- und Wissenschaftspolitik wird eine grundlegende Neudefinition und Neugestaltung von Bildung und Lernen erwartet. Die aktuelle Debatte über die schwerwiegenden Effizienzdefizite unseres Bildungs- und Ausbildungssystems und daher überfälligen Modernisierung auf dem Wege in das neue Medienzeitalter hat bereits begonnen.

Die Dimension öffentlicher Klagen über die "Krise der dualen Berufsausbildung", die "Verrottung der Hochschulen" und die "Misere in der Weiterbildung" und die nicht zu befriedigende Nachfrage nach Qualifikationen vor allem im Informatik und Multimediabereich erinnert unweigerlich an die Debatte der 60er-Jahre und Pichts Warnung vor einer drohenden Bildungskatastrophe. Anders als vor 30 Jahren vollzieht sich die aktuelle Debatte im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Dynamik und dem Anspruch auf gesellschaftliche Chancengleichheit.

Die Aneignung und kreative Nutzung von Information und Wissen gehören künftig weltweit zu den Schlüsselqualifikationen des gesellschaftlichen Wohlstands.

Zwei zentrale Fragestellungen drängen in diesem Zusammenhang auf eine Klärung:

  • Erstens: Wie definieren wir das Politik- und Lernziel "Bildung"?
  • Und zweitens: Was verbinden wir mit dem Begriff bzw. einer Politik der Chancengleichheit und was verstehen wir in diesem Zusammenhang unter Modernisierung (des Bildungswesens) - vor allem im Prozess der europäischen Integration und Globalisierung?

2.
Befunde zur Realisierung von Chancengleichheit

Ob der Übergang zur Informationsgesellschaft gelingt, hängt entscheidend davon ab, wie der Weg dorthin gestaltet wird und wem die Nutzung der neuen IuK-Technologien zugute kommt.

Bei der ortsunabhängigen und unmittelbaren Verfügbarkeit von Informationen über die neuen Medien müssten theoretisch alle Länder und gesellschaftlichen Gruppen die gleichen Chancen haben, mit dieser neuen Entwicklung Schritt zu halten. Die Realität stellt sich noch sehr heterogen dar. Bei der Internetverbreitung und -nutzung bestehen derzeit noch enorme Unterschiede zwischen den Ländern:

In den USA nutzen beispielsweise mehr als dreimal so viele Menschen wie in Deutschland das Internet (USA 30 % - BRD 9 %). Deutliche Unterschiede stellen sich auch bei einem Vergleich von Männern und Frauen heraus:

In den USA betrug der Frauenanteil an der Internet-Nutzung 40%, während die BRD erst 12,2 % weibliche Netzanwenderinnen zu verzeichnen hatte (Vergleichsdaten USA-BRD aus dem Jahre 1997 nach Winker). Der typische Online-Nutzer ist jung, wohlgebildet, berufstätig und männlich.

Zu den Ursachen für die schwache Beteiligung von Frauen im Netz gehören die ungleichen Zugangsmöglichkeiten für Frauen und Männer. Nach Studien von Winker werden Frauen bei durchschnittlich geringerem Einkommen durch die Anschaffungs- und Betriebskosten abgeschreckt. Ihnen fehlen darüber hinaus nicht nur Erfahrungen mit der technischen Struktur, sondern vor allem interessante Angebote im Netz. Es verwundert nicht, dass auch die Organisation von Arbeit auf Netzbasis geschlechtshierarchisch geprägt ist. Dementsprechend finden Themen und Arbeitsfelder, die gesellschaftlich Frauen zugeordnet werden, bisher kaum Berücksichtigung. Es fehlt offensichtlich an Systemspezialistinnen und Software-Entwicklerinnen.

3.
Gesellschaftliche Entwicklung bis 2009

Unabhängig hiervon stellt der Umgang mit dem Internet eine grundlegend neue Kulturtechnik dar, die prinzipiell als Bereicherung bewertet und die Notwendigkeit ihrer breiten Vermittlung von niemandem ernsthaft bestritten wird. Das dialogorientierte Internet vermag nicht nur die Beschränkung auf sprachlich oder kulturell begrenzte Räume aufzuheben, sondern auch die Möglichkeiten des Rollen- bzw. Seitenwechsels zu erweitern.

Von einer auf die andere Sekunde kann theoretisch jede Person von der passiven Nutzung des Internets zur aktiven Gestaltung inhaltlicher Angebote übergehen und hierbei vom Empfänger zum Sender werden. Mit Blick auf eine bessere Zukunft, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit muss in diesem Zusammenhang auch die Frage der menschlichen Identität in Verbindung mit dem Thema Zeit und dem Verhältnis von Geschwindigkeit und Langsamkeit in den Vordergrund der Betrachtung gerückt werden.

Zu den Kennzeichen der revolutionären Entwicklung der Kommunikationstechnologien gehört vor allem das Tempo, mit der neue Informationssysteme in immer kürzeren Innovationsphasen auf den Markt kommen. Die erste Euphorie über derart faszinierende Leistungssteigerungen dürfte nach einem Blick auf ihre Schattenseiten einer Ernüchterung weichen. Nach Backhaus leben wir gegenwärtig in einer Welt der Höchstgeschwindigkeit. Alles muss immer schneller gehen, viele Prozesse vollziehen sich gleichzeitig. Wettbewerb wird zunehmend gesteuert durch "Simultanes Engineering" und "Speed Management". Die Gefahr nimmt zu, das Ziel der Beschleunigung aus den Augen zu verlieren und statt dessen - so warnt der Autor besorgt - orientierungslos in eine Beschleunigungsfalle zu rasen.

Es gibt bereits jetzt beim Computerkauf keinen optimalen Kaufzeitpunkt mehr, weil die hohe Innovationsrate Käufe verhindert und verzögert. Durch so genanntes "Leap-frogging-Verhalten" werden auf der Nachfrageseite ganze Leistungsgenerationen übersprungen, weil keine Bereitschaft mehr besteht, z.B. gerade erlernte Software-Programme schon wieder neuen Programmen und neuen Lernprozessen zu opfern.

Beispielsweise gibt es - aus ökonomischem Blickwinkel betrachtet - bereits jetzt beim Computerkauf keinen optimalen Kaufzeitpunkt mehr, weil die hohe Innovationsrate Käufe verhindert und verzögert. Durch so genanntes "Leap-frogging-Verhalten" werden auf der Nachfrageseite ganze Leistungsgenerationen übersprungen, weil keine Bereitschaft mehr besteht, z.B. gerade erlernte Software-Programme schon wieder neuen Programmen und neuen Lernprozessen zu opfern. Ähnlich wie bei den Software-Programmen verhält es sich beispielsweise auch mit der rasanten Modellfolge japanischer Autos in den USA. Vor dem Hintergrund beschränkter Aufnahmemöglichkeiten durch die Nachfrageseite werden die Grenzen der Beschleunigung sichtbar.

Die Informations- und Wissensgesellschaft ruft vor allem auch deshalb nach einem Konzept des lebenslangen Lernens, weil neues Wissen in hohem Tempo (!) hervorgebracht wird und in kurzen Fristen immer neue Kenntnisse erwartet werden. Das Thema "Geschwindigkeit" wird im Rahmen der Debatte um Qualifikation, Qualität und Verwertbarkeit zu reflektieren sein. Auch dem Schutz vor einer wachsenden Bandbreite krimineller Energien und Extremisten im Internet ist verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Die negativen Erscheinungen umfassen Glücksspiele, den Verkauf von gestohlenen Waren, Waffen und Drogen, Hinweise zur Konstruktion von Sprengstoffkörpern wie auch Urheberrechtsverletzungen, die Verbreitung gewaltverherrlichender Schriften und kinderporno-graphische Darstellungen.

Durch die Digitalisierung werden traditionelle Kontrollmöglichkeiten ausgehebelt und strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten erfolgreich ausgewichen. Tempo als auch Globalität des Internet schränken die Reichweite staatlicher Eingriffsmöglichkeiten zunehmend ein. Anbieter elektronischer Informations- und Kommunikationsdienste haben daher einen Jugendschutzbeauftragten zu bestellen. Durch das BKA werden anlassunabhängige Recherchen im Internet und den Online-Diensten zur Eindämmung von Kinderpornografie durchgeführt (Streifegehen im Internet mit einer speziellen Suchmaschine). Zum Schutz der Menschenwürde und der Jugend bekämpft die EU mit Hilfe eines Aktionsplanes und anhand von Empfehlungen gemeinschaftsweit illegale und schädigende Internet-Inhalte.

"Kompetenz im Umgang mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnik ist mehr als die rein technische Fähigkeit, den Computer bedienen zu können. Sie umfasst die intelligente Navigation durch die Fülle des Informationsangebotes, die Fähigkeit, Informationen gezielt zu suchen und zu finden, sie zu bewerten und für die eigene Wissensvermehrung zu nutzen..."

4.
Eine neue Philosophie

Teilt man die Einschätzung von Welsch, so gibt es keine Epoche der sozioökonomischen Entwicklung, in der Bildung und Qualifikation einen derart hohen Stellenwert einnehmen wie auf dem Weg zur Informations- und Wissensgesellschaft. Mehr Wissen und Bildung bedeuten ein Mehr an Lebensqualität. Demzufolge ist es Aufgabe der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen und gleiche Chancen von Frauen und Männern an der breiten Nutzung moderner IuK-Technologien zu gewährleisten. Benachteiligten Bevölkerungskreisen und unterrepräsentierten Frauen muss der Zugang zu modernen Informations- und Kommunikationstechniken durch treffsichere Maßnahmen erleichtert werden. Konkret bedeutet dies die Notwendigkeit umfangreicher Investitionen in die Bildung und Ausbildung von Menschen, die gesellschaftlich benachteiligt sind.

Aus geschlechterdemokratischem Blickwinkel werden die neuen Kommunikationstechnologien noch genauer als bisher daraufhin zu überprüfen sein, ob und inwieweit sich auch hier die mehr oder weniger heimliche Konzeption einer überholten Geschlechterhierarchie und Ansätze einer hegemonialen Männlichkeit wiederspiegeln und allein schon durch die quantitative Dominanz der Männer auf diesem zukunftsträchtigen Feld täglich neu reproduziert werden. Das Konzept der Chancengleichheit hält in diesem Zusammenhang auch die staatliche Forschungs- und Technologiepolitik als "Männerbund" (Döge) und die signifikante Unterrepräsentanz von Frauen in Beratungsgremien des Bundesforschungsministeriums für reformbedürftig.

5.
Wege und Instrumente zu mehr Gleichheit

Nicht von ungefähr geht die Bundesregierung in ihrem Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert davon aus, dass Multimedia in die Bildung zu integrieren und neue Fähigkeiten beim Erwerb von Medienkompetenz zu erlernen sind. Bundesinnenminister Schily hat diese kürzlich auf einer öffentlichen Veranstaltung folgendermaßen beschrieben: "Kompetenz im Umgang mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnik ist mehr als die rein technische Fähigkeit, den Computer bedienen zu können. Sie umfasst die intelligente Navigation durch die Fülle des Informationsangebotes, die Fähigkeit, Informationen gezielt zu suchen und zu finden, sie zu bewerten und für die eigenen Wissensvermehrung zu nutzen.

Gleich bedeutsam ist die Fähigkeit unerwünschte oder schädliche Informationen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen". Neben der Zielbestimmung und der Wahl des inhaltlichen Konzeptes darüber, was, wozu und wie gelernt werden muss, spielt die Prozessgestaltung für den Erfolg der angesagten Modernisierung des Bildungswesens auf dem Weg zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit eine ausschlaggebende Rolle. Für die Organisation eines solchen Zukunftsprojektes ist ein leistungsfähiges Change-Management erforderlich. Expertinnen und Experten werden benötigt, die neben der erforderlichen Medienkompetenz auch die Fähigkeit zur Koordinierung und Kooperation in Verbindung mit Multimedia den Menschen in verschiedenen Lebensaltern vermitteln können.

Eine Politik der Chancengleichheit baut Internetsucht und Vereinsamung durch ein digitales Abdriften in sekundär-reale Scheinwelten mit Hilfe flankierender Maßnahmen vor.

6.
Anforderungen an Politik und Gesellschaft

Bisher exklusives Wissen und tiefere Kenntnisse der IuK-Technik müssen durch gezielte Maßnahmen im Rahmen von Schule, beruflicher Bildung, Hochschule und Weiterbildung an uninformierte und benachteiligte gesellschaftliche Gruppen und Individuen vermittelt werden.

Zur Organisation dieses Vermittlungsprozesses im Rahmen einer sozialverträglichen Technikgestaltung gehört der pflegliche Umgang mit Zeit und Kraft. Eine Hinführung zu Entscheidungsfähigkeit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung im Prozess des lebenslangen Lernens kann nur gelingen unter Bedingungen, bei denen

  • Bedachtsamkeit,
  • Unterscheidungsvermögen und die
  • Reflexion von Sinnfragen Platz haben.
Mitgliedern multimedialer Gesellschaften drohen Verzettelung, Ablenkung, Wahllosigkeit bis zu Widerlichkeiten (Wernstedt). Informatisierung und Globalisierung müssen einer Neuverteilung von Arbeit sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu Gute kommen. Wirtschaft, Politik und Verwaltung müssen ihre Verantwortung gemeinsam wahrnehmen und die Informationsgesellschaft menschengerecht gestalten.

Der Einsatz neuer Kommunikationstechnologien muss dem Zusammenwachsen einer multikulturellen Gesellschaft dienen. Die Möglichkeit, zwischen kulturellen Kontexten zu wechseln, muss als Bereicherung erlebt und bewertet werden. Auf dem Wege zur Informationsgesellschaft erhält die face-to-face-Kommunikation einen veränderten Stellenwert. Eine Politik der Chancengleichheit baut Internetsucht und Vereinsamung durch ein digitales Abdriften in sekundärreale Scheinwelten mit Hilfe flankierender Maßnahmen vor.

Männer und Frauen müssen auf dem wachsenden Teilarbeitsmarkt Multimedia auf allen Ebenen gleichermaßen vertreten und die Legende von der Technikdistanz weiblicher Menschen durch Fakten und überzeugende Leistungen entkräftet werden. Die Ziele einer menschengerecht gestalteten Informations- und Dienstleistungsgesellschaft haben nur dann eine Chance auf Verwirklichung, wenn die gesellschafts- und bildungspolitische Navigation stimmt. Gelingt diese nicht, so nimmt die Gefahr zu, dass sich ungehemmt folgender Trend durchsetzt: "Wir wissen ja auch nicht, wo wir hinwollen, aber wir werden auf jeden Fall als erste dort sein".


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Einführung/Thesenpapier/
Bericht

- Holger H. Lührig / Marion Lührig
- Prof. Dr. Herbert Kubicek
- Prof. Dr. Uta Meier
- Dr. Hermann Rotermund

Round-Table 1:
Multimedia-Nutzung und Lernen:
- Renate Hendricks
- Gabriele Lichtenthäler
- Prof. Dr. Birgit Dankert

Round-Table 2:
Bund/Länder-Programme auf dem Prüfstand
- Roland Simon
- Prof. Dr. Gabriele Winker